Otto Luchterhandt
Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg


Grundrechtsschutz durch Individualbeschwerde-ver-fahren in Verfassungsgerichten. Eine Skizze


I. Einführung in das Problem

Zu den bedeutendsten und faszinierendsten Phänomenen der Entwicklung der nationalen Verfassungsordnungen im 20. Jahrhundert zählt die Ausbreitung der Verfassungsgerichtsbarkeit. In Europa hat sie nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu einen "Siegeszug" (Klaus Stern) erlebt, der durch ihre beinahe flächendeckende Einführung im postkommunistischen Raum bis zum Ende des Jahrtausends seinen Höhepunkt erreichte . Dieser steile Aufstieg dürfte damit an sein Ende gekommen sein, denn es spricht wenig dafür und ist daher ziemlich unwahrscheinlich, dass die geistesgeschichtlich und rechtskulturell so völlig anders als die euro-atlantische Staatenwelt geprägten islamischen und schwarzafrikanischen Staaten an diese Entwicklung im angebrochenen 21. Jahrhundert werden anknüpfen können. Zugleich muss man sich freilich davor hüten, die Verfassungsgerichtsbarkeit als eine unverlierbare nationale Errungenschaft, gewissermaßen als einen juristischen point of no return zu betrachten. Es gehört vielmehr zu den bleibenden, bitteren, zu Nüchternheit mahnenden Erfahrungen und Erkenntnissen, welche gerade die deutschen Staatsrechtler aus der Verfassungsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert gewonnen haben, dass nämlich die Höhen einer humanen Rechtsordnung nur durch eine geringe Entfernung von den Abgründen der Barbarei getrennt sind, dass - anders gesagt - Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Demokratie mühsam erworbene und sehr zerbrechliche politisch-rechtliche Leistungen einer Nation sind, dass sie nur durch laufende ehrliche und ernsthafte Anstrengungen gegen ihre ständigen - offenen und versteckten - Gefährdungen verteidigt und bewahrt werden können, wenn man ihren Verlust nicht riskieren will. Eine wesentliche Voraussetzung für den bleibenden Erfolg einer mental, politisch und juristisch so anspruchsvollen Institution, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit sie darstellt, ist die innere, sozio-politische Konsolidierung und Stabilität einer Nation. Das lehrt gewiss am eindrucksvollsten und geradezu exemplarisch der Weg der Vereinigten Staaten von Amerika seit 1787, das lehrt aber auch der erfolgreiche Weg Deutschlands in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Zu diesem Erfolgt hat, und darin liegt eine eigenartige Dialektik zwischen Recht und Wirklichkeit, die Verfassungsgerichtsbarkeit nach einhelliger Überzeugung in Deutschland einen unschätzbaren Beitrag geleistet. Einen bedeutenden Anteil an dieser Leistung aber hatte, auch das ist unstrittig, das Rechtsinstitut der Verfassungs- bzw. Grundrechtsbeschwerde des Menschen und Bürgers (im weiteren: Individualbeschwerde). Es ist eine schwer zu beantwortende rechtssoziologische und zugleich kulturanthropologische Frage, ob dieser Erfolg nur durch dafür günstige Eigenarten der in Deutschland geschichtlich gewachsenen Rechtskultur ermöglicht wurde, das Rechtsinstitut der Individualbeschwerde daher nicht ohne weiteres mit gleicher Erfolgsaussicht auf andere Staaten, Nationen, Rechtsordnungen übertragen werden könnte. Dies näher zu untersuchen, wäre gewiss reizvoll, ist im vorliegenden Rahmen aber nicht möglich. Gleichwohl liegt die Vermutung nahe, dass die rechtskulturellen Voraussetzungen, welche die Nationen jeweils mitbringen, in durchaus unterschiedlichem Grade Einführung, Anwendung und Wirkung der Individualbeschwerde erleichtern und begünstigen. Für die Republik Armenien, die noch nicht über eine Individualbeschwerde verfügt, sich zu ihrer Einführung aber im Zuge der beabsichtigten Verfassungsreform entschließen könnte, ist das Problem durchaus aktuell . Sichere Voraussagen über den möglichen Erfolg eines entsprechenden Schrittes lassen sich naturgemäß nicht machen, denn der Gesetzgeber bewegt sich hier auf dem Felde der Rechts- und Verfassungspolitik, das in hohem Maße von der Maxime des 'trial and error' (Karl Popper) bestimmt wird. Die Qualität des "Versuches", seine Chancen hängen aber nicht unwesentlich davon ab, dass man zunächst einmal theoretisch die verschiedenen Formen der Individualbeschwerde untersucht, denn bekanntlich gibt es sie nicht nur als ein einziges Modell . Es ist Zweck dieses Beitrages, die vorhandenen Varianten der Individualbeschwerde in einem knappen systematischen Überblick darzustellen.

II. Ansätze und Verfahrensformen der Individualbeschwerde

Man kann die Formen der Individualbeschwerde in unterschiedlicher Weise systematisieren. Ich wähle hier als Ansatz die Art der staatlichen Maßnahme bzw. des Aktes, gegen welche sich das Individuum mit seiner Beschwerde wendet: normative Rechtsakte (Gesetze, Verordnungen usw.), Verwaltungsakte, Gerichtsentscheidungen. Die Beschwerden können vom Individuum entweder unmittelbar selbst beim Verfassungsgericht anhängig gemacht werden - dies ist das üblicherweise als Individualbeschwerde bezeichnete Instrument, sie können aber auch durch Einschaltung und mit Hilfe eines anderen Staatsorgans (Gericht; Ombudsman; Menschenrechtsbeauftragter; Generalstaatsanwalt usw.) an das Verfassungsgericht herangetragen werden. Auf diese mittelbare Form wird im folgenden nicht weiter eingegangen.

a) Beschwerden gegen Gesetze, Verordnungen und sonstige untergesetzliche normative Rechtsakte

1. Populare Individualbeschwerden (actio popularis)

Bei der Möglichkeit, Gesetze im materiellen Sinne unabhängig von einem konkreten Beschwerdeanlass und persönlicher Betroffenheit des Antragstellers überprüfen zu lassen, ist Ungarn am weitesten gegangen, indem es ein solches Antragsrecht jedermann - Bürgern, Ausländern und Staatenlosen - eingeräumt hat . Der Sache nach stellt die actio popularis eine verfahrensmäßige Verbindung von abstrakter Normenkontrolle und Individualbeschwerde dar. Der ungarische Gesetzgeber hat sie erklärtermaßen als Instrument der Übergangsperiode eingeführt, um durch den weitgezogenen Kreis von Antragsberechtigten im Normenkontrollverfahren die Überprüfung und Außerkraftsetzung der unter dem kommunistischen Regime erlassenen, aber formell nach seinem Ende fortgeltenden Rechtsnormen zu beschleunigen. Das Instrument hat sich bewährt, wurde aber allgemein als problematisch betrachtet, da es wegen der Vielzahl der zur Prüfung gestellten Probleme die Macht des Verfassungsgerichts stärkt und eine Grundlage seines vieldiskutierten "Aktionismus" bildete .

2. Individualbeschwerden aufgrund der Behauptung erlittener Grundrechtsverletzungen

Gegenüber der Popularbeschwerde deutlich eingeschränkt ist die für die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland typisch gewordene sogenannte Verfassungsbeschwerde. Ihre Zulässigkeit setzt nämlich eine spezielle Beschwerdebefugnis voraus. Die im Prinzip antragsberechtigte Person muss gegenüber dem Verfassungsgericht einen auf Tatsachen gestützten Sachverhalt darlegen, aus dem sich in plausibler Weise die Möglichkeit der im Antrag behaupteten persönlichen Grundrechtsverletzung ergibt . Die Beschwerdebefugnis erfüllt die Funktion eines Filters, um die von der staatlichen Maßnahme in ihren eigenen Grundrechten betroffenen und daher an dem Verfahren persönlich interessierten Menschen von denjenigen Personen zu trennen, die nur allgemein, "abstrakt" von den Grundrechtsproblemen berührt sind. Der Ausschluss letzterer vom Verfahren hat auch den Zweck, eine Arbeitsüberlastung des Verfassungsgerichts zu verhindern. Eine weitere Einschränkung sieht das deutsche Recht vor, indem es die Zulässigkeit der Beschwerde an die zusätzliche Bedingung knüpft, dass das Individuum zunächst das zuständige ordentliche Gericht oder das Fachgericht anruft und den betreffenden Instanzenzug "ausschöpft". In diesem Sinne ist ausdrücklich geregelt, dass die Verfassungsmäßigkeit untergesetzlicher Rechtsakte (Verordnungen usw.) beispielsweise (auch) von den Verwaltungsgerichten überprüft werden darf. Formelle, d.h. vom Parlament erlassene Gesetze, können hingegen sofort mit der Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht angegriffen werden, sofern sie durch die Auferlegung von Verboten oder Geboten das Verhalten des Antragstellers zu Lasten seiner Grundrechte mit unmittelbarer Wirkung regeln.
Eine weitere Einschränkung der Individualbeschwerde kann darin liegen, dass das Verfassungsgericht die Beschwerde nur in den Grenzen des gestellten Antrages, d.h. allein unter dem Gesichtspunkt der vom Antragsteller ausdrücklich behaupteten Grundrechtsverletzungen prüfen darf . Der deutsche Gesetzgeber ist dem Ansatz einer Bindung des Verfassungsgerichts an den Beschwerdeantrag nicht gefolgt, denn er sieht die Funktion des verfassungsgerichtlichen Verfahrens primär darin, aufgetauchte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen objektiv auszuräumen. Das Bundesverfassungsgericht darf daher die Verfassungsmäßigkeit einer Norm auch aus Gesichtspunkten, die der Antragsteller nicht vorgetragen hat, prüfen, soweit es dazu nach eigener Einschätzung Veranlassung sieht.

3. Individualbeschwerden aufgrund der Behauptung persönlich erlittener Grundrechtsverletzungen gegen normative Rechtsakte in Verbindung mit oder im Rahmen eines gewöhnlichen Gerichtsprozesses

Wegen des rechtsstaatlichen und zugleich demokratischen Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sind Eingriffe in Grundrechte von Seiten der staatlichen Behörden nur gerechtfertigt, wenn sie durch gesetzliche Ermächtigungsvorschriften begründet sind. Diese Ermächtigungsnormen des Gesetzes müssen ihrerseits mit den verfassungsmäßigen Grundrechten vereinbar sein. Daraus ergibt sich für das Individuum als Grundrechtsträger das Interesse und zugleich das Problem, nicht nur die Verfassungsmäßigkeit des staatlichen Aktes überprüfen zu lassen, der unmittelbar in seine Grundrechte eingreift, sondern auch die Verfassungsmäßigkeit der dem Eingriffsakt zugrunde liegenden gesetzlichen Ermächtigungsnorm. Deren Überprüfung durch das Verfassungsgericht wird in aller Regel im vorrangigen Interesse des betroffenen Bürgers liegen, weil die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, das zu Grundrechtseingriffen ermächtigt, aus prozessualer Sicht die primäre Ursache und Fehlerquelle von Grundrechtsverletzungen ist. Die Grundrechtswidrigkeit des Vorgehens der gesetzesanwendenden Behörden und Gerichte ist dadurch vorprogrammiert.
Analysiert man rechtsvergleichend die nationalen Verfassungsgerichtsgesetze, dann stellt man fest, dass sie insgesamt drei Wege kennen, die Verfassungsmäßigkeit von Ermächtigungsgesetzen, die Grundrechtseingriffe legitimieren, mit dem Instrument der Individualbeschwerde feststellen zu lassen. Die Wege unterscheiden sich nur dadurch voneinander, wie eng die Individualbeschwerde zum Verfassungsgericht mit dem Rechtsstreit im Prozessgericht verbunden ist. Das soll im folgenden beispielhaft anhand verschiedener nationaler Regelungen aus dem postkommunistischen Raum Europas gezeigt werden:
¨ Russländische Föderation

Gemäß Art. 125 Abs. 4 der Föderalverfassung i.V.m. Art. 96 ff. des Föderalen Verfassungsgerichtsgesetzes Russlands vom 21.7.1994 können Bürger, Ausländer und Staatenlose, kurz: alle Personen, gleich welchen Status, eine Individualbeschwerde (individual'naja žaloba) gegen solche förmlichen Gesetze (zakon) einlegen, von deren Anwendung die Entscheidung eines Rechtsstreites unzweifelhaft oder nur möglicherweise abhängt, welcher bei einem Gericht allgemeiner Jurisdiktion, bei einem Militärgericht oder bei einem Wirtschaftsgericht (arbitražnyj sud) anhängig ist oder anhängig war. Die Zulässigkeit der Individualbeschwerde setzt allerdings voraus, dass der Beschwerdeführer dem Verfassungsgericht eine Bescheinigung des Rechtsanwendungsorgans (und damit im Regelfall der gegnerischen Partei im Prozess) darüber vorlegt, dass sie das umstrittene Gesetz angewendet habe oder möglicherweise anwenden werde. Diese Zulässigkeitsvoraussetzung ist fragwürdig, weil sie dem Prozessgegner einer zur Individualbeschwerde entschlossenen Person ungerechtfertigterweise ein wirksames Mittel in die Hand gibt, die Einlegung der Individualbeschwerde zu erschweren, hinauszuzögern oder gar zu verhindern . Individualbeschwerden gegen untergesetzliche normative Rechtsakte sind unzulässig; die Überprüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit können interessierte Personen inzidenter, d.h. im Rahmen eines gewöhnlichen Rechtsstreites durch das Prozessgericht oder durch Einschaltung der Staatsanwaltschaft (Protesterhebung) oder des Menschenrechtsbeauftragten der Russländischen Föderation herbeiführen.

¨ Rumänien

In den konkreten Rechtsstreit integriert und daher mit dem Verfahrenstyp der Konkreten Normenkontrolle verschmolzen ist die Individualbeschwerde gegen Gesetze und Gesetzesverordnungen in Rumänien. Nach der ursprünglichen Fassung des Verfassungsgerichtsgesetzes von 1992 hatte eine Prozesspartei das Recht, gegen ein Gesetz oder eine Verordnung mit Gesetzeskraft oder gegen einzelne ihrer Vorschriften, von deren Anwendung der Ausgang des Rechtsstreites abhing, gegenüber dem Prozessgericht die (zu begründende) Einwendung der Verfassungswidrigkeit zu erheben. Das Gericht war dann verpflichtet, die Frage zu prüfen, das Verfahren auszusetzen und die von der Prozesspartei erhobene Einwendung dem Verfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen. Um die Zahl derartiger individueller Einwendungen der Verfassungswidrigkeit einzuschränken, wurde 1997 das Verfahren erschwert, die Stellung des Individualbeschwerdeführers gegenüber dem Prozessgericht im Vorlageverfahren geschwächt. Das Prozessgericht ist nämlich dann nicht verpflichtet, die Einwendung der Verfassungswidrigkeit dem Verfassungsgericht vorzulegen, wenn die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Gesetzesvorschriften entweder vom Gesetzgeber mit verfassungsändernder Mehrheit autoritativ festgestellt (vgl. Art. 145 der rumänischen Verfassung) oder die Frage vom Verfassungsgericht bereits entschieden wurde . Über die Anrufung des Verfassungsgerichts entscheidet das Prozessgericht durch Beschluss, dem allerdings die Individualbeschwerde des Bürgers (Prozesspartei) unverkürzt beizufügen ist.

¨ Ungarn, Polen, Tschechien

Die Möglichkeit, erst nach Abschluss eines gerichtlichen Rechtsstreites die Verfassungsmäßigkeit der die Gerichtsentscheidung tragenden Gesetzesvorschriften gezielt im Wege der Individualbeschwerde überprüfen zu lassen, ist namentlich in Ungarn, Polen und in der Tschechischen Republik eröffnet.
Die vom ungarischen Gesetzgeber so genannte Verfassungsbeschwerde richtet sich ausschließlich gegen Rechtsnormen. Die Beschwerde kann allein diejenige Person einlegen, die behauptet, ihre Grundrechte seien durch einen Vollzugsakt verletzt worden, der wegen der Verfassungswidrigkeit der betreffenden Rechtsnorm nicht habe erlassen werden dürfen . Die Verfassungsbeschwerde kann innerhalb von 60 Tagen nach Erschöpfung des Rechtsweges gegen den Vollzugsakt, also nach Erlass der letzten Gerichtsentscheidung in der Sache eingelegt werden .
Ähnlich wie in Ungarn ist die "Verfassungsklage" genannte Individualbeschwerde ausgestaltet, die in Polen durch die Verfassung vom 2.4.1997 eingeführt wurde . Auch ihr Gegenstand sind rechtliche Normativakte jeder Art (Gesetze, Verordnungen usw.). Die Beschwerdefrist beträgt 2 Monate seit der Zustellung des rechtskräftigen Urteils oder einer sonstigen endgültigen Entscheidung, die aufgrund der angeblich verfassungswidrigen Rechtsnorm gefällt wurde.
Auch in Tschechien kann sich jemand mit einer Individualbeschwerde gegen einen normativen Rechtsakt (oder einzelne seiner Vorschriften) mit der Behauptung seiner Verfassungswidrigkeit an das Verfassungsgericht wenden, wenn er die Grundlage für einen entsprechenden Vollzugsakt bildet . Der Antrag auf Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit muss innerhalb von 60 Tagen nach Inkrafttreten der Entscheidung über das gegen den Vollzugsakt eingelegte Rechtsmittel gestellt worden sein .


b) Beschwerden gegen Einzelakte von staatlichen Exekutivor-ga-nen und gegen Gerichtsentscheidungen

In den meisten Fällen wird die Verfassungswidrigkeit einer behördlichen oder gerichtlichen Maßnahme bzw. Entscheidung ihre Ursache in der Verfassungswidrigkeit des ihr zugrunde liegenden normativen Rechtsaktes haben, so dass die gegen die betreffenden Vollzugsakte gerichteten Individualbeschwerden eigentlich die Funktion haben, die im Hintergrund stehende Norm anzugreifen, sie "inzidenter" vom Prozessgericht für verfassungswidrig erklären zu lassen und dadurch im Ergebnis eine Revision der das Grundrecht verletzenden Vollzugsmaßnahme zu erreichen. Natürlich gibt es aber auch den Fall, dass die Behörde oder das Gericht eine an sich verfassungsmäßige Vorschrift in verfassungswidriger Weise anwendet. Das kann und wird insbesondere dann mit höherer Wahrscheinlichkeit geschehen, wenn der Gesetzgeber dem Rechtsanwendungsorgan mehr oder weniger breite Ermessensspielräume bei dem Vollzug der Rechtsvorschrift eingeräumt hat. Daher besteht das legitime Bedürfnis, Individualbeschwerden auch ganz spezifisch gegen Vollzugsakte von staatlichen Exekutivorganen und kommunalen Selbstverwaltungsorganen sowie gegen Gerichtsentscheidungen zuzulassen.
Analysiert man rechtsvergleichend die heute geltenden Verfassungs-gerichtsgesetze, so muss man allerdings feststellen, dass die Staaten zwar, wie eben beschrieben, verhältnismäßig großzügig die Möglichkeit eröffnen, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und untergesetzlichen normativen Rechtsakten überprüfen zu lassen, weitaus zurückhaltender aber in Bezug auf Gesetzesvollzugsakte bzw. Rechtsanwendungsakte sind. Auf die rechtspolitischen Ursachen der Zurückhaltung kann an dieser Stelle aus naheliegenden Gründen nicht weiter eingegangen werden. Ein Hauptgrund aber dürfte der sein, dass im Zentrum der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Rechtsanwendungsakten naturgemäß Gerichtsentscheidungen stehen und dadurch vielfältige Konflikte zwischen den allgemeinen Gerichten und namentlich dem Obersten Gericht einerseits, dem Verfassungsgericht andererseits vorprogrammiert sind. Dass dies keineswegs eine nur theoretische Annahme a priori, sondern ein durchaus ernstzunehmendes Problem in allen Staaten mit einem selbständigen Verfassungsgericht nach österreichisch-deutschem Vorbild ist, zeigt der jeweilige Rechtsalltag .

1. Bundesrepublik Deutschland

Auf die im internationalen Vergleich wohl intensivste Erfahrung mit spezifischen Individualbeschwerden gegen Einzel- bzw. Vollzugsakte kann Deutschland blicken. Indem die Individualbeschwerde im Prinzip gegen beliebige Maßnahmen der öffentlichen Gewalt zulässig ist , erfasst sie auch alle Arten von Rechtsanwendungsakten der staatlichen Exekutivorgane und Gerichte. Da die Individualbeschwerde allerdings nur zulässig ist, wenn der "Rechtsweg", d.h. der Weg durch die Instanzen der Gerichte, zuvor ausgeschöpft wurde , ist ihr Objekt in aller Regel die letztinstanzliche Entscheidung des zuständigen Gerichtszweiges, sei es der ordentlichen Gerichte oder der Fachgerichte (Arbeitsgerichtsbarkeit; allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit; Sozialgerichtsbarkeit und Finanzgerichtsbarkeit). Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Entscheidungen der sonstigen Gerichte allein nach dem Kriterium bzw. dem Maßstab, ob sie bei der Auslegung der (verfassungsmäßigen) Rechtsnorm die unter Umständen zu berücksichtigenden Grundrechte in irgendeiner Weise verkannt haben. Andere Auslegungsmängel darf das Bundesverfassungsgericht nicht beanstanden, es sei denn, die Fehler sind krass und haarsträubend. Dann hebt es die Entscheidung auf, weil ihre offenkundige Willkürlichkeit die Qualität der Verletzung des Menschenrechts auf Gleichheit bedeutet .


2. Postkommunistische Staaten Europas

Dem Beispiel Deutschlands sind Tschechien, Slowenien, Kroatien und Albanien gefolgt. Die von den betroffenen Grundrechtsträgern für verfassungswidrig gehaltenen Vollzugsakte der Verwaltung müssen auch hier zunächst im normalen Instanzenzug bei den Gerichten angefochten werden. Die Individualbeschwerde richtet sich dann gegen die letztinstanzliche Entscheidung, die in aller Regel ein Urteil ist.
Eine originelle Variante der Individualbeschwerde gegen Rechtsanwendungsakte existierte in Russland (RSFSR) unter seinem ersten Verfassungsgerichtsgesetz von 1991 . Jede Person konnte die Beschwerde mit der Behauptung erheben, der angegriffene Rechtsanwendungsakt sei Ausdruck und zugleich typisch für eine seine Grundrechte verletzende, zur Gewohnheit der betreffenden Staatsorgane gewordene Rechtsanwendungspraxis (obyknovenie pravoprimenitel'noj praktiki). Die offenkundige Achillesferse des Verfahrens, nämlich die von dem Beschwerdeführer nur mit großen Schwierigkeiten zu erfüllende Zulässigkeitsvoraussetzung des vom Gesetz an sich verlangten Nachweises der obyknovenie, hatte das "Zor'kin-Gericht" weitgehend entschärft, nämlich dadurch, dass es für die Zulässigkeit einer solchen Individualbeschwerde bereits die plausible Behauptung ausreichen ließ, auch ein erster, noch vereinzelt dastehender Rechtsanwendungsakt sei - als eine Art Präzedenzfall - geeignet, eine grundrechtswidrige Behördenpraxis zu begründen . Da die Variante der Individualbeschwerde wegen ihrer Unklarheit allerdings viel Verwirrung gestiftet hatte, war ihre Abschaffung durch das geltende Verfassungsgerichtsgesetz Russlands von 1994 nicht unverständlich.


III. Unverbindliche Verfahrensformen der Befassung des Ver-fas-sungs-gerichts mit Individualbeschwerden

Die wohl am weitesten verbreitete Form der indirekten Befassung des Verfassungsgerichts mit Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ist das oben bereits wiederholt erwähnte Verfahren der konkreten Normenkontrolle. Es zeichnet sich bekanntlich durch das dem Prozessgericht zustehende Recht aus, dem Verfassungsgericht die für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgebende Gesetzesvorschrift zur Prüfung vorzulegen, wenn das Prozessgericht von der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift überzeugt ist . Das Prozessgericht erfüllt hier die Funktion eines Filters für individuelle Bedenken und Beschwerden über angeblich grundrechtswidrige Gesetze. Die konkrete Normenkontrolle ist ihrer Rechtsnatur nach aus der Sicht des Individuums eine indirekte, wohl aber verbindliche Form der Befassung des Verfassungsgerichts mit einer für verfassungswidrig gehaltenen Norm.
In der Praxis der Verfassungsgerichte sind aber noch andere Formen ihrer Befassung mit Individualbeschwerden aufgetaucht, deren Eigenart darin besteht, dass sie direkt an das Verfassungsgericht gerichtet werden, aber (trotz vorliegender Zulässigkeitsvoraussetzungen) nicht verbindlich zur Einleitung eines Überprüfungsverfahrens führen. Die Rede ist von Individualbeschwerden, die in der Form und Qualität von Vorschlägen oder Eingaben an das Verfassungsgericht gerichtet werden, mit der Bitte, bestimmte normative Rechtsakte oder sonstige staatliche Maßnahmen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Teils gehen solche Eingaben beim Verfassungsgericht kraft des den Bürgern von der Verfassung eingeräumten (allgemeinen) Petitionsrechts ein, teils sind solche Eingabeverfahren in den Verfassungsgerichtsgesetzen geregelt.
Bereits im kommunistischen Jugoslawien war es aufgrund der Bundesverfassungen von 1963 und 1974 zu einer Verbindung zwischen der Petitionsbeschwerde und der Befugnis der Verfassungsgerichte gekommen, ex officio die Verfassungsmäßigkeit normativer Rechtsakte zu überprüfen . Jedermann konnte eine Beschwerde an die Republiksverfassungsgerichte und an das Bundesverfassungsgericht mit der Anregung richten, bestimmte normative Rechtsakte wegen Verfassungswidrigkeit außer Kraft zu setzen. In aller Regel beruhte die Beschwerde auf einem bestimmten Vorgang, der von dem Bürger als Verletzung seiner Verfassungsrechte empfunden wurde. Seine Anregung an das Gericht stellte lediglich die abstrakte juristische Schlussfolgerung aus diesem konkreten Anlass dar. Die Verfassungsgerichte waren zwar nicht verpflichtet, wohl aber berechtigt, aufgrund solcher Petitionsbeschwerden ein abstraktes Normenkontrollverfahren einzuleiten. Die Entscheidung darüber lag in ihrem eigenen, letztlich rechtspolitischen Ermessen. Zugleich handelte es sich um eine Variante der den jugoslawischen Gerichten im Bund und in den Gliedstaaten eingeräumten Befugnis, abstrakte Normenkontrollverfahren aus eigener Initiative einzuleiten.
Die Variante blieb keine nur theoretische Möglichkeit; ganz im Gegenteil: zwischen 75 und 80 % beruhten die eingeleiteten Normenkontrollverfahren im kommunistischen Jugoslawien auf Petitionsbeschwerden! Die Verfassungsgerichte begrenzten allerdings, aus naheliegenden politischen Gründen, ihre Praxis ausschließlich auf die Überprüfung untergesetzlicher Normativakte und hier in aller Regel auf die (autonomen) Rechtssetzungsakte der diversen Selbstverwaltungskörperschaften im Lande.
In den postkommunistischen Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist das Modell einer Kombination von Petitionsbeschwerde und abstrakter Normenkontrolle ex officio überwiegend beibehalten worden .
Dem Beispiel Jugoslawiens war die UdSSR gefolgt, als sie im Zuge der Perestrojka 1989 das Rechtsinstitut bzw. das Komitee der Verfassungsaufsicht (komitet konstitucionnogo nadzora) einführte . Aufgrund seiner Befugnis, abstrakte Normenkontrollen ex officio einzuleiten (Art. 124 Abs. 5 UdSSR-Verfassung 1989) griff das Komitee bevorzugt und gezielt solche Petitionsbeschwerden von Bürgern auf, die gerade die Grundrechtswidrigkeit gewisser Gesetze und Rechtsverordnungen signalisierten. Das geschah auch deswegen, weil bei der Feststellung von Grundrechtsverletzungen die "Gutachten" (zakljucenija) des Komitees die stärkste Rechtswirkung, nämlich die kassatorische Rechtswirkung hatten, also die Aufhebung der beanstandeten Rechtsnormen bewirkten, gleichgültig, ob es sich um ein Gesetz oder um einen untergesetzlichen Akt handelte . Fast alle der vom Komitee in den anderthalb Jahren seiner Existenz durch Gutachten entschiedenen 21 Fälle dienten daher dem Schutz der Grundrechte! - ein Ruhmesblatt seiner unvergessenen Vorsitzenden Sergej S. Alekseev und Boris M. Lazarev!
Es ist offensichtlich, dass die Befugnis, ein abstraktes Normenkontrollverfahren auf eigene Initiative, ex officio einzuleiten, die Voraussetzung dafür ist, dass grundrechtsbezogene Petitionsbeschwerden eine Chance auf Wirkung und Erfolg bekommen. Allerdings steht die anlassunabhängige Verfahrenseinleitung aus eigener Initiative im Widerspruch zu dem Grundgedanken, zu der ratio esendi des Gerichts im allgemeinen und damit auch des Verfassungsgerichts. Denn es ist eine wesentliche Voraussetzung und Bedingung für die Gewährleistung der politischen Unvoreingenommenheit, Neutralität, Unparteilichkeit und Leidenschaftslosigkeit eines Verfassungsgerichts, dass es sich nicht selbst, aktiv "seine" Fälle nach mehr oder weniger politischen Erwägungen und Kriterien aussuchen kann, sondern in passiver Lage auf Prüfungsanträge von anderer, fremder Seite mit bestimmten Problemfällen und Streitfragen wartet. Mustergültig bestimmt daher die Verfassung der Republik Armenien in Art. 100 Abs. 2: "Das Verfassungsgericht behandelt eine Angelegenheit nur, wenn ein entsprechender Antrag vorliegt." Dementsprechend verfügen die Verfassungsgerichte in den Nachfolgestaaten der UdSSR, abweichend vom Komitee der Verfassungsaufsicht, in der Regel nicht mehr über die Befugnis zur Verfahrenseinleitung aus eigener Initiative . Eine Ausnahme bildete Weißrussland aufgrund seiner Verfassung von 1994 (Art. 127 Abs. 4). Das Verfassungsgericht durfte "nach seinem Ermessen Fragen der Vereinbarkeit von Normativakten jedes staatlichen Organs und jeder gesellschaftlichen Organisation mit der Verfassung, den Gesetzen und den von der Republik Weißrussland ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen prüfen" . Durch die einschneidende Verfassungsrevision vom 24.11.1996 wurde das ex-officio-Verfahren abgeschafft (vgl. Art. 116 n.F.). Doch schon 1997 und seither mit wachsender Intensität hat das Verfassungsgericht einen Weg gefunden, dem Bürger trotz fehlender Individualbeschwerde ein gewisses funktionales Äquivalent zu verschaffen. Ansatz ist die Petitionsbeschwerde gemäß Art. 40 der Verfassung Weißrusslands . In Verbindung mit seinem Recht, sich mit förmlichen Vorschlägen an andere Staatsorgane zu wenden (Art. 7 VerfGG), hat das Verfassungsgericht seit 1998 ein "weiches" Individualbeschwerdeverfahren in folgenden Schritten entwickelt:
Entsprechend seiner Verpflichtung gemäß Art. 40 Abs. 2 der Verfassung nimmt das Gericht die Petitionen an, berät - 2. - über den Fall, trifft - 3. - eine Entscheidung über die Begründetheit der Petition in der Sache und schließt - 4. - das Prüfungsverfahren in einer Form, die einer Gerichtsentscheidung angenähert ist, ab. Diese "Entscheidung" verknüpft sie - 5. - mit einem "Vorschlag", auf welchem Wege die Verfassungswidrigkeit beseitigt werden könne, und stellt die Feststellung der Verfassungswidrigkeit mitsamt dem Vorschlag - 6. - dem betreffenden Staatsorgan förmlich zu. Darüber hinaus veröffentlicht das Verfassungsgericht die "Entscheidung" - 7. - im Gesetzblatt Weißrusslands und kümmert sich schließlich - 8. - nach Ablauf der im Vorschlag gesetzten Vollzugsfrist darum, ob bzw. wie die Verfassungswidrigkeit beseitigt wurde.
In der Praxis waren Adressaten der Vorschläge des Verfassungsgerichts bislang die Regierung und das Parlament. Zwar reagierten sie mitunter ablehnend, insgesamt aber konstruktiv .

IV. Zur Frage eines Verfassungsvorbehalts für Individual-beschwerden

Die grundsätzliche Frage, welche Rechtsinstitute, Organe und Verfahren nicht einfach nur auf der Ebene des Parlamentsgesetzes, sondern kraft ihres Gewichts, ihrer Bedeutung und Tragweite für Staat, Gesellschaft und Bürger in der Verfassungsurkunde selbst geregelt werden müssen, richtet sich als erstes an die Verfassungstheorie und die Verfassungslehre. Zugleich ist sie ein wichtiges Thema der Verfassungspolitik. In den Grundzügen dessen, was unbedingt in den Text der Verfassung gehört und was, weil weniger bedeutsam, vielleicht verzichtbar ist, sind sich Theorie und Praxis weitgehend einig. Das beweisen jedenfalls die Ergebnisse der vergleichenden Verfassungswissenschaft. In Randfragen und im Detail bestehen hier freilich viele Unklarheiten und folglich Meinungsverschiedenheiten, die mit guten Gründen so oder auch anders gelöst werden können.
Die Frage nach Geltung und Reichweite eines Verfassungsvorbehalts betrifft aber nicht nur die originäre Verfassungsgebung, sondern behält durchaus ihre Aktualität auch für eine geltende Verfassung. Darüber, dass die Einführung eines "Verfassungs-"Gerichts legitimerweise nur durch eine Änderung bzw. Ergänzung der Verfassung erfolgen kann, wird man wohl schnell eine Einigung erzielen können, aber schwieriger wird das Problem, wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit, ausgestattet mit diversen Kompetenzen, zwar bereits Teil der geltenden Verfassung ist, die Individualbeschwerde aber fehlt und starke politische Kräfte ihre Einführung fordern und den Plan verfolgen, die Individualbeschwerde durch ein einfaches Gesetz einzuführen weil sie keine verfassungsändernde, sondern nur die gesetzesändernde Mehrheit im Parlament besitzen. Ist dies ohne weiteres zulässig oder gilt für die Individualbeschwerde der Verfassungsvorbehalt?
Bekanntlich ist dies ein Problem, das seit einiger Zeit in juristischen Fachkreisen der Republik Armenien diskutiert wird und das in dem Maße auch praktische Bedeutung erlangen könnte, wie das Schicksal der vom Staatspräsidenten angestrebten Revision der Verfassung des Landes in der Schwebe bleibt.
Der Verfassungstheoretiker und der Spezialist für Verfassungsvergleichung werden, von ihren Grundsätzen ausgehend, wohl übereinstimmend den Standpunkt vertreten, die Kompetenzen und Verfahren des Verfassungsgerichts müssten im Verfassungstext selbst geregelt werden. In der Tat gibt es dafür Gründe, aber so einfach ist das Problem nicht zu lösen. Vielmehr hängt die Antwort auf die Frage, ob die Einführung der Individualbeschwerde der Verfassungsänderung bedarf, entscheidend davon ab, mit welcher Konzeption, Systematik und Wortlaut die jeweilige nationale Verfassung die Verfassungsgerichtsbarkeit regelt. Deutschland bietet insofern ein interessantes und lehrreiches Beispiel, denn das Grundgesetz führte durch seine ursprüngliche Fassung (23.5.1949) zwar die Verfassungsgerichtsbarkeit mit einem Kompetenzkatalog ein (Art. 93), nicht jedoch die Individualbeschwerde. Sie wurde erst 1951 durch das Gesetz über das Verfassungsgericht (§§ 90 ff.) eingeführt. Wäre der Kompetenzkatalog des Gerichts im Grundgesetz abschließend bestimmt gewesen, dann hätte der Gesetzgeber mit diesem Vorgehen verfassungswidrig gehandelt. Art. 93 Abs. 2 GG bestimmte jedoch damals und bestimmt noch immer: "Das Bundesverfassungsgericht wird ferner in den ihm sonst durch Bundesgesetz (!) zugewiesenen Fällen tätig." Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz konnte also dementsprechend die Individualbeschwerde einführen; sie war durch Abs. 2 vom Willen des Verfassungsgebers pauschal mitumfasst. Eine solche Kompetenzöffnungs- oder -erweiterungsklausel kennen viele nationale Verfassungen. Die Verfassung der Republik Armenien enthält nichts dergleichen. Der von ihr bestimmte Kompetenzkatalog des Verfassungsgerichts (vgl. Art. 100) ist abschließend. Allerdings steht Art. 100 der Einführung einer Individualbeschwerde in der Form der Beschwerde gegen Gesetze und untergesetzliche Normativakte der Exekutive nicht entgegen, denn Art. 100 Ziffer 1 lässt offen, ob nicht auch auf Initiative eines Individuums die Verfassungsmäßigkeit solcher Akte vom Verfassungsgericht überprüft werden könnte. Die Möglichkeit, das Verfahren der Normenkontrolle im Sinne von Art. 100 Ziffer 1 auch durch einen allein durch das Verfassungsgerichtsgesetz Armeniens eingeräumten Individualantrag in Gang setzen zu können, wird jedoch durch Art. 101 verbaut. Die Vorschrift beschränkt nämlich in Abs. 1 das Recht, sich an das Verfassungsgericht mit irgendwelchen Verfahrensanträgen wenden zu können, definitiv auf vier Verfassungsorgane bzw. Funktionsträger und Teile von ihnen. Private Individuen, Menschen oder Bürger, sind nicht darunter; sie sind ersichtlich ausgeschlossen. Zu Recht hat die Venezianische Kommission des Europarats in ihrer gutachterlichen Bemerkung zu dem Problem festgestellt, dass die Regelung des Art. 57 der Verfassung nur scheinbar eine Erweiterung des Kataloges der Antragsteller gemäß Art. 101 der Verfassung darstellt .
Es führt daher kein Weg an der Feststellung vorbei: Der Verfassung der Republik Armenien liegt ersichtlich das Konzept zugrunde, das Antragsrecht zum Verfassungsgericht restriktiv und abschließend im Verfassungstext zu bestimmen. Ein anderes, entgegengesetztes Konzept verfolgt z. B. die Verfassung Polens (Art. 191). Für die Einführung der Individualbeschwerde in der Republik Armenien gilt der Verfassungsvorbehalt im strengsten Sinne: der Verfassungstext muss dafür speziell geöffnet, also geändert werden. Ob dies rechts- und verfassungspolitisch zweckmäßig wäre, ist eine andere Frage, die letztlich nur vom armenischen Volk entschieden werden kann. Die oben dargelegte Übersicht über die möglichen Formen der Individualbeschwerde liefert eine breite Auswahl für eine mögliche Entscheidung.

Резюме

Несмотря на то, что конституционное судопроизводство в течение последних десятилетий 20-го века получило большое распространение в мире и, в частности, в посткоммунистических государствах Центрaльной и Восточной Европы, процедура защиты конституционных прав на основании индивидуальных жалоб отсутствует в законодательстве многих из этих стран. Это относится и к Республике Армения. С точки зрения сравнительного правоведения, одной из основных причин подобной сдержанности законодателя, по всей видимости, является опасение, что конституционные суды могут потонуть в лавине индивидуальных жалоб. Другим следствием могла бы стать перегруженность Конституционного Суда, которая затронула бы его функциональную дееспособность и нанесла бы удар по его авторитету в государстве. Эти опасения следует принимать всерьез. Разумеется, их не следует переоценивать. Нельзя забывать о том, что, во-первых, есть различные формы индивидуальных жалоб и, во-вторых, что индивидуальная жалоба не может обладать одинаковым эффектом во всех правовых системах и во всякой правовой культуре. Наконец, не следует закрывать глаза на то, что граждане государств, являющихся членами Совета Европы и участниками Европейской Конвенции о защите прав человека и основных свобод, имеют право подать индивидуальную жалобу в Европейский Суд по Правам Человека в Страсбурге, то есть в наднациональный судебный орган. Этот факт свидетельствует скорее в пользу того, что введение индивидуальной жалобы в национальное конституционное право не стоит превращать в фундаментальную проблему. Решение о введении индивидуальной жалобы должно приниматься в спокойной, рассудительной обстановке с учетом достоверных сведений о ее возможных разновидностях, уже применявшихся в Европе на практике. Представленный обзор дает общее представление об основных формах индивидуальной жалобы. Вначале он описывает индивидуальную жалобу против нормативных правовых актов (законы, постановления органов исполнительной власти и т.д.). Формами этих жалоб являются общедоступная жалоба и жалоба на лично коснувшиеся человека нарушения основных прав, которая может подаваться частично вне пределов и частично — в пределах конкретного правового спора в суде общей юрисдикции. Упоминается также и индивидульная жалоба на решения административных органов и судов. Наконец, речь идет и об индивидуальных жалобах, которые имеют необязательный характер, а именно: характер обращений в Конституционный Суд и которые, в сочетании с полномочием Конституционного Суда по возбуждению производства по контролю правовых норм ex officio, могут привести к принятию постановления по поднятому в обращении вопросу, однако не обязательно приводят к этому.

Вне зависимости от того, на какой процедуре судопроизводства в конечном итоге остановит свой выбор национальный законодатель, очевидно, что введение индивидуальной жалобы допустимо только в том случае, если конституция в явной или скрытой форме - "между строк" - предусматривает такую возможность.