Otto Luchterhandt
Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität
Hamburg
Grundrechtsschutz durch Individualbeschwerde-ver-fahren
in Verfassungsgerichten. Eine Skizze
I. Einführung in das Problem
Zu den bedeutendsten und faszinierendsten
Phänomenen der Entwicklung der nationalen Verfassungsordnungen im
20. Jahrhundert zählt die Ausbreitung der Verfassungsgerichtsbarkeit.
In Europa hat sie nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu einen "Siegeszug"
(Klaus Stern) erlebt, der durch ihre beinahe flächendeckende Einführung
im postkommunistischen Raum bis zum Ende des Jahrtausends seinen Höhepunkt
erreichte . Dieser steile Aufstieg dürfte damit an sein Ende gekommen
sein, denn es spricht wenig dafür und ist daher ziemlich unwahrscheinlich,
dass die geistesgeschichtlich und rechtskulturell so völlig anders
als die euro-atlantische Staatenwelt geprägten islamischen und schwarzafrikanischen
Staaten an diese Entwicklung im angebrochenen 21. Jahrhundert werden anknüpfen
können. Zugleich muss man sich freilich davor hüten, die Verfassungsgerichtsbarkeit
als eine unverlierbare nationale Errungenschaft, gewissermaßen als
einen juristischen point of no return zu betrachten. Es gehört vielmehr
zu den bleibenden, bitteren, zu Nüchternheit mahnenden Erfahrungen
und Erkenntnissen, welche gerade die deutschen Staatsrechtler aus der
Verfassungsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert gewonnen haben,
dass nämlich die Höhen einer humanen Rechtsordnung nur durch
eine geringe Entfernung von den Abgründen der Barbarei getrennt sind,
dass - anders gesagt - Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Demokratie
mühsam erworbene und sehr zerbrechliche politisch-rechtliche Leistungen
einer Nation sind, dass sie nur durch laufende ehrliche und ernsthafte
Anstrengungen gegen ihre ständigen - offenen und versteckten - Gefährdungen
verteidigt und bewahrt werden können, wenn man ihren Verlust nicht
riskieren will. Eine wesentliche Voraussetzung für den bleibenden
Erfolg einer mental, politisch und juristisch so anspruchsvollen Institution,
wie die Verfassungsgerichtsbarkeit sie darstellt, ist die innere, sozio-politische
Konsolidierung und Stabilität einer Nation. Das lehrt gewiss am eindrucksvollsten
und geradezu exemplarisch der Weg der Vereinigten Staaten von Amerika
seit 1787, das lehrt aber auch der erfolgreiche Weg Deutschlands in den
letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Zu diesem Erfolgt hat, und darin
liegt eine eigenartige Dialektik zwischen Recht und Wirklichkeit, die
Verfassungsgerichtsbarkeit nach einhelliger Überzeugung in Deutschland
einen unschätzbaren Beitrag geleistet. Einen bedeutenden Anteil an
dieser Leistung aber hatte, auch das ist unstrittig, das Rechtsinstitut
der Verfassungs- bzw. Grundrechtsbeschwerde des Menschen und Bürgers
(im weiteren: Individualbeschwerde). Es ist eine schwer zu beantwortende
rechtssoziologische und zugleich kulturanthropologische Frage, ob dieser
Erfolg nur durch dafür günstige Eigenarten der in Deutschland
geschichtlich gewachsenen Rechtskultur ermöglicht wurde, das Rechtsinstitut
der Individualbeschwerde daher nicht ohne weiteres mit gleicher Erfolgsaussicht
auf andere Staaten, Nationen, Rechtsordnungen übertragen werden könnte.
Dies näher zu untersuchen, wäre gewiss reizvoll, ist im vorliegenden
Rahmen aber nicht möglich. Gleichwohl liegt die Vermutung nahe, dass
die rechtskulturellen Voraussetzungen, welche die Nationen jeweils mitbringen,
in durchaus unterschiedlichem Grade Einführung, Anwendung und Wirkung
der Individualbeschwerde erleichtern und begünstigen. Für die
Republik Armenien, die noch nicht über eine Individualbeschwerde
verfügt, sich zu ihrer Einführung aber im Zuge der beabsichtigten
Verfassungsreform entschließen könnte, ist das Problem durchaus
aktuell . Sichere Voraussagen über den möglichen Erfolg eines
entsprechenden Schrittes lassen sich naturgemäß nicht machen,
denn der Gesetzgeber bewegt sich hier auf dem Felde der Rechts- und Verfassungspolitik,
das in hohem Maße von der Maxime des 'trial and error' (Karl Popper)
bestimmt wird. Die Qualität des "Versuches", seine Chancen
hängen aber nicht unwesentlich davon ab, dass man zunächst einmal
theoretisch die verschiedenen Formen der Individualbeschwerde untersucht,
denn bekanntlich gibt es sie nicht nur als ein einziges Modell . Es ist
Zweck dieses Beitrages, die vorhandenen Varianten der Individualbeschwerde
in einem knappen systematischen Überblick darzustellen.
II. Ansätze und Verfahrensformen
der Individualbeschwerde
Man kann die Formen der Individualbeschwerde
in unterschiedlicher Weise systematisieren. Ich wähle hier als Ansatz
die Art der staatlichen Maßnahme bzw. des Aktes, gegen welche sich
das Individuum mit seiner Beschwerde wendet: normative Rechtsakte (Gesetze,
Verordnungen usw.), Verwaltungsakte, Gerichtsentscheidungen. Die Beschwerden
können vom Individuum entweder unmittelbar selbst beim Verfassungsgericht
anhängig gemacht werden - dies ist das üblicherweise als Individualbeschwerde
bezeichnete Instrument, sie können aber auch durch Einschaltung und
mit Hilfe eines anderen Staatsorgans (Gericht; Ombudsman; Menschenrechtsbeauftragter;
Generalstaatsanwalt usw.) an das Verfassungsgericht herangetragen werden.
Auf diese mittelbare Form wird im folgenden nicht weiter eingegangen.
a) Beschwerden gegen Gesetze, Verordnungen
und sonstige untergesetzliche normative Rechtsakte
1. Populare Individualbeschwerden
(actio popularis)
Bei der Möglichkeit, Gesetze
im materiellen Sinne unabhängig von einem konkreten Beschwerdeanlass
und persönlicher Betroffenheit des Antragstellers überprüfen
zu lassen, ist Ungarn am weitesten gegangen, indem es ein solches Antragsrecht
jedermann - Bürgern, Ausländern und Staatenlosen - eingeräumt
hat . Der Sache nach stellt die actio popularis eine verfahrensmäßige
Verbindung von abstrakter Normenkontrolle und Individualbeschwerde dar.
Der ungarische Gesetzgeber hat sie erklärtermaßen als Instrument
der Übergangsperiode eingeführt, um durch den weitgezogenen
Kreis von Antragsberechtigten im Normenkontrollverfahren die Überprüfung
und Außerkraftsetzung der unter dem kommunistischen Regime erlassenen,
aber formell nach seinem Ende fortgeltenden Rechtsnormen zu beschleunigen.
Das Instrument hat sich bewährt, wurde aber allgemein als problematisch
betrachtet, da es wegen der Vielzahl der zur Prüfung gestellten Probleme
die Macht des Verfassungsgerichts stärkt und eine Grundlage seines
vieldiskutierten "Aktionismus" bildete .
2. Individualbeschwerden aufgrund
der Behauptung erlittener Grundrechtsverletzungen
Gegenüber der Popularbeschwerde
deutlich eingeschränkt ist die für die Verfassungsgerichtsbarkeit
in Deutschland typisch gewordene sogenannte Verfassungsbeschwerde. Ihre
Zulässigkeit setzt nämlich eine spezielle Beschwerdebefugnis
voraus. Die im Prinzip antragsberechtigte Person muss gegenüber dem
Verfassungsgericht einen auf Tatsachen gestützten Sachverhalt darlegen,
aus dem sich in plausibler Weise die Möglichkeit der im Antrag behaupteten
persönlichen Grundrechtsverletzung ergibt . Die Beschwerdebefugnis
erfüllt die Funktion eines Filters, um die von der staatlichen Maßnahme
in ihren eigenen Grundrechten betroffenen und daher an dem Verfahren persönlich
interessierten Menschen von denjenigen Personen zu trennen, die nur allgemein,
"abstrakt" von den Grundrechtsproblemen berührt sind. Der
Ausschluss letzterer vom Verfahren hat auch den Zweck, eine Arbeitsüberlastung
des Verfassungsgerichts zu verhindern. Eine weitere Einschränkung
sieht das deutsche Recht vor, indem es die Zulässigkeit der Beschwerde
an die zusätzliche Bedingung knüpft, dass das Individuum zunächst
das zuständige ordentliche Gericht oder das Fachgericht anruft und
den betreffenden Instanzenzug "ausschöpft". In diesem Sinne
ist ausdrücklich geregelt, dass die Verfassungsmäßigkeit
untergesetzlicher Rechtsakte (Verordnungen usw.) beispielsweise (auch)
von den Verwaltungsgerichten überprüft werden darf. Formelle,
d.h. vom Parlament erlassene Gesetze, können hingegen sofort mit
der Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht angegriffen werden, sofern
sie durch die Auferlegung von Verboten oder Geboten das Verhalten des
Antragstellers zu Lasten seiner Grundrechte mit unmittelbarer Wirkung
regeln.
Eine weitere Einschränkung der Individualbeschwerde kann darin liegen,
dass das Verfassungsgericht die Beschwerde nur in den Grenzen des gestellten
Antrages, d.h. allein unter dem Gesichtspunkt der vom Antragsteller ausdrücklich
behaupteten Grundrechtsverletzungen prüfen darf . Der deutsche Gesetzgeber
ist dem Ansatz einer Bindung des Verfassungsgerichts an den Beschwerdeantrag
nicht gefolgt, denn er sieht die Funktion des verfassungsgerichtlichen
Verfahrens primär darin, aufgetauchte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit
von Gesetzen objektiv auszuräumen. Das Bundesverfassungsgericht darf
daher die Verfassungsmäßigkeit einer Norm auch aus Gesichtspunkten,
die der Antragsteller nicht vorgetragen hat, prüfen, soweit es dazu
nach eigener Einschätzung Veranlassung sieht.
3. Individualbeschwerden aufgrund
der Behauptung persönlich erlittener Grundrechtsverletzungen gegen
normative Rechtsakte in Verbindung mit oder im Rahmen eines gewöhnlichen
Gerichtsprozesses
Wegen des rechtsstaatlichen und
zugleich demokratischen Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der
Verwaltung sind Eingriffe in Grundrechte von Seiten der staatlichen Behörden
nur gerechtfertigt, wenn sie durch gesetzliche Ermächtigungsvorschriften
begründet sind. Diese Ermächtigungsnormen des Gesetzes müssen
ihrerseits mit den verfassungsmäßigen Grundrechten vereinbar
sein. Daraus ergibt sich für das Individuum als Grundrechtsträger
das Interesse und zugleich das Problem, nicht nur die Verfassungsmäßigkeit
des staatlichen Aktes überprüfen zu lassen, der unmittelbar
in seine Grundrechte eingreift, sondern auch die Verfassungsmäßigkeit
der dem Eingriffsakt zugrunde liegenden gesetzlichen Ermächtigungsnorm.
Deren Überprüfung durch das Verfassungsgericht wird in aller
Regel im vorrangigen Interesse des betroffenen Bürgers liegen, weil
die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, das zu Grundrechtseingriffen ermächtigt,
aus prozessualer Sicht die primäre Ursache und Fehlerquelle von Grundrechtsverletzungen
ist. Die Grundrechtswidrigkeit des Vorgehens der gesetzesanwendenden Behörden
und Gerichte ist dadurch vorprogrammiert.
Analysiert man rechtsvergleichend die nationalen Verfassungsgerichtsgesetze,
dann stellt man fest, dass sie insgesamt drei Wege kennen, die Verfassungsmäßigkeit
von Ermächtigungsgesetzen, die Grundrechtseingriffe legitimieren,
mit dem Instrument der Individualbeschwerde feststellen zu lassen. Die
Wege unterscheiden sich nur dadurch voneinander, wie eng die Individualbeschwerde
zum Verfassungsgericht mit dem Rechtsstreit im Prozessgericht verbunden
ist. Das soll im folgenden beispielhaft anhand verschiedener nationaler
Regelungen aus dem postkommunistischen Raum Europas gezeigt werden:
¨ Russländische Föderation
Gemäß Art. 125 Abs.
4 der Föderalverfassung i.V.m. Art. 96 ff. des Föderalen Verfassungsgerichtsgesetzes
Russlands vom 21.7.1994 können Bürger, Ausländer und Staatenlose,
kurz: alle Personen, gleich welchen Status, eine Individualbeschwerde
(individual'naja aloba) gegen solche förmlichen Gesetze (zakon)
einlegen, von deren Anwendung die Entscheidung eines Rechtsstreites unzweifelhaft
oder nur möglicherweise abhängt, welcher bei einem Gericht allgemeiner
Jurisdiktion, bei einem Militärgericht oder bei einem Wirtschaftsgericht
(arbitranyj sud) anhängig ist oder anhängig war. Die Zulässigkeit
der Individualbeschwerde setzt allerdings voraus, dass der Beschwerdeführer
dem Verfassungsgericht eine Bescheinigung des Rechtsanwendungsorgans (und
damit im Regelfall der gegnerischen Partei im Prozess) darüber vorlegt,
dass sie das umstrittene Gesetz angewendet habe oder möglicherweise
anwenden werde. Diese Zulässigkeitsvoraussetzung ist fragwürdig,
weil sie dem Prozessgegner einer zur Individualbeschwerde entschlossenen
Person ungerechtfertigterweise ein wirksames Mittel in die Hand gibt,
die Einlegung der Individualbeschwerde zu erschweren, hinauszuzögern
oder gar zu verhindern . Individualbeschwerden gegen untergesetzliche
normative Rechtsakte sind unzulässig; die Überprüfung ihrer
Verfassungsmäßigkeit können interessierte Personen inzidenter,
d.h. im Rahmen eines gewöhnlichen Rechtsstreites durch das Prozessgericht
oder durch Einschaltung der Staatsanwaltschaft (Protesterhebung) oder
des Menschenrechtsbeauftragten der Russländischen Föderation
herbeiführen.
¨ Rumänien
In den konkreten Rechtsstreit integriert
und daher mit dem Verfahrenstyp der Konkreten Normenkontrolle verschmolzen
ist die Individualbeschwerde gegen Gesetze und Gesetzesverordnungen in
Rumänien. Nach der ursprünglichen Fassung des Verfassungsgerichtsgesetzes
von 1992 hatte eine Prozesspartei das Recht, gegen ein Gesetz oder eine
Verordnung mit Gesetzeskraft oder gegen einzelne ihrer Vorschriften, von
deren Anwendung der Ausgang des Rechtsstreites abhing, gegenüber
dem Prozessgericht die (zu begründende) Einwendung der Verfassungswidrigkeit
zu erheben. Das Gericht war dann verpflichtet, die Frage zu prüfen,
das Verfahren auszusetzen und die von der Prozesspartei erhobene Einwendung
dem Verfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen. Um die Zahl derartiger
individueller Einwendungen der Verfassungswidrigkeit einzuschränken,
wurde 1997 das Verfahren erschwert, die Stellung des Individualbeschwerdeführers
gegenüber dem Prozessgericht im Vorlageverfahren geschwächt.
Das Prozessgericht ist nämlich dann nicht verpflichtet, die Einwendung
der Verfassungswidrigkeit dem Verfassungsgericht vorzulegen, wenn die
Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Gesetzesvorschriften
entweder vom Gesetzgeber mit verfassungsändernder Mehrheit autoritativ
festgestellt (vgl. Art. 145 der rumänischen Verfassung) oder die
Frage vom Verfassungsgericht bereits entschieden wurde . Über die
Anrufung des Verfassungsgerichts entscheidet das Prozessgericht durch
Beschluss, dem allerdings die Individualbeschwerde des Bürgers (Prozesspartei)
unverkürzt beizufügen ist.
¨ Ungarn, Polen, Tschechien
Die Möglichkeit, erst nach
Abschluss eines gerichtlichen Rechtsstreites die Verfassungsmäßigkeit
der die Gerichtsentscheidung tragenden Gesetzesvorschriften gezielt im
Wege der Individualbeschwerde überprüfen zu lassen, ist namentlich
in Ungarn, Polen und in der Tschechischen Republik eröffnet.
Die vom ungarischen Gesetzgeber so genannte Verfassungsbeschwerde richtet
sich ausschließlich gegen Rechtsnormen. Die Beschwerde kann allein
diejenige Person einlegen, die behauptet, ihre Grundrechte seien durch
einen Vollzugsakt verletzt worden, der wegen der Verfassungswidrigkeit
der betreffenden Rechtsnorm nicht habe erlassen werden dürfen . Die
Verfassungsbeschwerde kann innerhalb von 60 Tagen nach Erschöpfung
des Rechtsweges gegen den Vollzugsakt, also nach Erlass der letzten Gerichtsentscheidung
in der Sache eingelegt werden .
Ähnlich wie in Ungarn ist die "Verfassungsklage" genannte
Individualbeschwerde ausgestaltet, die in Polen durch die Verfassung vom
2.4.1997 eingeführt wurde . Auch ihr Gegenstand sind rechtliche Normativakte
jeder Art (Gesetze, Verordnungen usw.). Die Beschwerdefrist beträgt
2 Monate seit der Zustellung des rechtskräftigen Urteils oder einer
sonstigen endgültigen Entscheidung, die aufgrund der angeblich verfassungswidrigen
Rechtsnorm gefällt wurde.
Auch in Tschechien kann sich jemand mit einer Individualbeschwerde gegen
einen normativen Rechtsakt (oder einzelne seiner Vorschriften) mit der
Behauptung seiner Verfassungswidrigkeit an das Verfassungsgericht wenden,
wenn er die Grundlage für einen entsprechenden Vollzugsakt bildet
. Der Antrag auf Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit
muss innerhalb von 60 Tagen nach Inkrafttreten der Entscheidung über
das gegen den Vollzugsakt eingelegte Rechtsmittel gestellt worden sein
.
b) Beschwerden gegen Einzelakte von staatlichen Exekutivor-ga-nen und
gegen Gerichtsentscheidungen
In den meisten Fällen wird
die Verfassungswidrigkeit einer behördlichen oder gerichtlichen Maßnahme
bzw. Entscheidung ihre Ursache in der Verfassungswidrigkeit des ihr zugrunde
liegenden normativen Rechtsaktes haben, so dass die gegen die betreffenden
Vollzugsakte gerichteten Individualbeschwerden eigentlich die Funktion
haben, die im Hintergrund stehende Norm anzugreifen, sie "inzidenter"
vom Prozessgericht für verfassungswidrig erklären zu lassen
und dadurch im Ergebnis eine Revision der das Grundrecht verletzenden
Vollzugsmaßnahme zu erreichen. Natürlich gibt es aber auch
den Fall, dass die Behörde oder das Gericht eine an sich verfassungsmäßige
Vorschrift in verfassungswidriger Weise anwendet. Das kann und wird insbesondere
dann mit höherer Wahrscheinlichkeit geschehen, wenn der Gesetzgeber
dem Rechtsanwendungsorgan mehr oder weniger breite Ermessensspielräume
bei dem Vollzug der Rechtsvorschrift eingeräumt hat. Daher besteht
das legitime Bedürfnis, Individualbeschwerden auch ganz spezifisch
gegen Vollzugsakte von staatlichen Exekutivorganen und kommunalen Selbstverwaltungsorganen
sowie gegen Gerichtsentscheidungen zuzulassen.
Analysiert man rechtsvergleichend die heute geltenden Verfassungs-gerichtsgesetze,
so muss man allerdings feststellen, dass die Staaten zwar, wie eben beschrieben,
verhältnismäßig großzügig die Möglichkeit
eröffnen, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und untergesetzlichen
normativen Rechtsakten überprüfen zu lassen, weitaus zurückhaltender
aber in Bezug auf Gesetzesvollzugsakte bzw. Rechtsanwendungsakte sind.
Auf die rechtspolitischen Ursachen der Zurückhaltung kann an dieser
Stelle aus naheliegenden Gründen nicht weiter eingegangen werden.
Ein Hauptgrund aber dürfte der sein, dass im Zentrum der verfassungsgerichtlichen
Überprüfung von Rechtsanwendungsakten naturgemäß
Gerichtsentscheidungen stehen und dadurch vielfältige Konflikte zwischen
den allgemeinen Gerichten und namentlich dem Obersten Gericht einerseits,
dem Verfassungsgericht andererseits vorprogrammiert sind. Dass dies keineswegs
eine nur theoretische Annahme a priori, sondern ein durchaus ernstzunehmendes
Problem in allen Staaten mit einem selbständigen Verfassungsgericht
nach österreichisch-deutschem Vorbild ist, zeigt der jeweilige Rechtsalltag
.
1. Bundesrepublik Deutschland
Auf die im internationalen Vergleich
wohl intensivste Erfahrung mit spezifischen Individualbeschwerden gegen
Einzel- bzw. Vollzugsakte kann Deutschland blicken. Indem die Individualbeschwerde
im Prinzip gegen beliebige Maßnahmen der öffentlichen Gewalt
zulässig ist , erfasst sie auch alle Arten von Rechtsanwendungsakten
der staatlichen Exekutivorgane und Gerichte. Da die Individualbeschwerde
allerdings nur zulässig ist, wenn der "Rechtsweg", d.h.
der Weg durch die Instanzen der Gerichte, zuvor ausgeschöpft wurde
, ist ihr Objekt in aller Regel die letztinstanzliche Entscheidung des
zuständigen Gerichtszweiges, sei es der ordentlichen Gerichte oder
der Fachgerichte (Arbeitsgerichtsbarkeit; allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit;
Sozialgerichtsbarkeit und Finanzgerichtsbarkeit). Das Bundesverfassungsgericht
überprüft die Entscheidungen der sonstigen Gerichte allein nach
dem Kriterium bzw. dem Maßstab, ob sie bei der Auslegung der (verfassungsmäßigen)
Rechtsnorm die unter Umständen zu berücksichtigenden Grundrechte
in irgendeiner Weise verkannt haben. Andere Auslegungsmängel darf
das Bundesverfassungsgericht nicht beanstanden, es sei denn, die Fehler
sind krass und haarsträubend. Dann hebt es die Entscheidung auf,
weil ihre offenkundige Willkürlichkeit die Qualität der Verletzung
des Menschenrechts auf Gleichheit bedeutet .
2. Postkommunistische Staaten Europas
Dem Beispiel Deutschlands sind
Tschechien, Slowenien, Kroatien und Albanien gefolgt. Die von den betroffenen
Grundrechtsträgern für verfassungswidrig gehaltenen Vollzugsakte
der Verwaltung müssen auch hier zunächst im normalen Instanzenzug
bei den Gerichten angefochten werden. Die Individualbeschwerde richtet
sich dann gegen die letztinstanzliche Entscheidung, die in aller Regel
ein Urteil ist.
Eine originelle Variante der Individualbeschwerde gegen Rechtsanwendungsakte
existierte in Russland (RSFSR) unter seinem ersten Verfassungsgerichtsgesetz
von 1991 . Jede Person konnte die Beschwerde mit der Behauptung erheben,
der angegriffene Rechtsanwendungsakt sei Ausdruck und zugleich typisch
für eine seine Grundrechte verletzende, zur Gewohnheit der betreffenden
Staatsorgane gewordene Rechtsanwendungspraxis (obyknovenie pravoprimenitel'noj
praktiki). Die offenkundige Achillesferse des Verfahrens, nämlich
die von dem Beschwerdeführer nur mit großen Schwierigkeiten
zu erfüllende Zulässigkeitsvoraussetzung des vom Gesetz an sich
verlangten Nachweises der obyknovenie, hatte das "Zor'kin-Gericht"
weitgehend entschärft, nämlich dadurch, dass es für die
Zulässigkeit einer solchen Individualbeschwerde bereits die plausible
Behauptung ausreichen ließ, auch ein erster, noch vereinzelt dastehender
Rechtsanwendungsakt sei - als eine Art Präzedenzfall - geeignet,
eine grundrechtswidrige Behördenpraxis zu begründen . Da die
Variante der Individualbeschwerde wegen ihrer Unklarheit allerdings viel
Verwirrung gestiftet hatte, war ihre Abschaffung durch das geltende Verfassungsgerichtsgesetz
Russlands von 1994 nicht unverständlich.
III. Unverbindliche Verfahrensformen der Befassung des Ver-fas-sungs-gerichts
mit Individualbeschwerden
Die wohl am weitesten verbreitete
Form der indirekten Befassung des Verfassungsgerichts mit Bedenken gegen
die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ist das oben bereits
wiederholt erwähnte Verfahren der konkreten Normenkontrolle. Es zeichnet
sich bekanntlich durch das dem Prozessgericht zustehende Recht aus, dem
Verfassungsgericht die für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgebende
Gesetzesvorschrift zur Prüfung vorzulegen, wenn das Prozessgericht
von der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift überzeugt ist . Das
Prozessgericht erfüllt hier die Funktion eines Filters für individuelle
Bedenken und Beschwerden über angeblich grundrechtswidrige Gesetze.
Die konkrete Normenkontrolle ist ihrer Rechtsnatur nach aus der Sicht
des Individuums eine indirekte, wohl aber verbindliche Form der Befassung
des Verfassungsgerichts mit einer für verfassungswidrig gehaltenen
Norm.
In der Praxis der Verfassungsgerichte sind aber noch andere Formen ihrer
Befassung mit Individualbeschwerden aufgetaucht, deren Eigenart darin
besteht, dass sie direkt an das Verfassungsgericht gerichtet werden, aber
(trotz vorliegender Zulässigkeitsvoraussetzungen) nicht verbindlich
zur Einleitung eines Überprüfungsverfahrens führen. Die
Rede ist von Individualbeschwerden, die in der Form und Qualität
von Vorschlägen oder Eingaben an das Verfassungsgericht gerichtet
werden, mit der Bitte, bestimmte normative Rechtsakte oder sonstige staatliche
Maßnahmen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen.
Teils gehen solche Eingaben beim Verfassungsgericht kraft des den Bürgern
von der Verfassung eingeräumten (allgemeinen) Petitionsrechts ein,
teils sind solche Eingabeverfahren in den Verfassungsgerichtsgesetzen
geregelt.
Bereits im kommunistischen Jugoslawien war es aufgrund der Bundesverfassungen
von 1963 und 1974 zu einer Verbindung zwischen der Petitionsbeschwerde
und der Befugnis der Verfassungsgerichte gekommen, ex officio die Verfassungsmäßigkeit
normativer Rechtsakte zu überprüfen . Jedermann konnte eine
Beschwerde an die Republiksverfassungsgerichte und an das Bundesverfassungsgericht
mit der Anregung richten, bestimmte normative Rechtsakte wegen Verfassungswidrigkeit
außer Kraft zu setzen. In aller Regel beruhte die Beschwerde auf
einem bestimmten Vorgang, der von dem Bürger als Verletzung seiner
Verfassungsrechte empfunden wurde. Seine Anregung an das Gericht stellte
lediglich die abstrakte juristische Schlussfolgerung aus diesem konkreten
Anlass dar. Die Verfassungsgerichte waren zwar nicht verpflichtet, wohl
aber berechtigt, aufgrund solcher Petitionsbeschwerden ein abstraktes
Normenkontrollverfahren einzuleiten. Die Entscheidung darüber lag
in ihrem eigenen, letztlich rechtspolitischen Ermessen. Zugleich handelte
es sich um eine Variante der den jugoslawischen Gerichten im Bund und
in den Gliedstaaten eingeräumten Befugnis, abstrakte Normenkontrollverfahren
aus eigener Initiative einzuleiten.
Die Variante blieb keine nur theoretische Möglichkeit; ganz im Gegenteil:
zwischen 75 und 80 % beruhten die eingeleiteten Normenkontrollverfahren
im kommunistischen Jugoslawien auf Petitionsbeschwerden! Die Verfassungsgerichte
begrenzten allerdings, aus naheliegenden politischen Gründen, ihre
Praxis ausschließlich auf die Überprüfung untergesetzlicher
Normativakte und hier in aller Regel auf die (autonomen) Rechtssetzungsakte
der diversen Selbstverwaltungskörperschaften im Lande.
In den postkommunistischen Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist das Modell
einer Kombination von Petitionsbeschwerde und abstrakter Normenkontrolle
ex officio überwiegend beibehalten worden .
Dem Beispiel Jugoslawiens war die UdSSR gefolgt, als sie im Zuge der Perestrojka
1989 das Rechtsinstitut bzw. das Komitee der Verfassungsaufsicht (komitet
konstitucionnogo nadzora) einführte . Aufgrund seiner Befugnis, abstrakte
Normenkontrollen ex officio einzuleiten (Art. 124 Abs. 5 UdSSR-Verfassung
1989) griff das Komitee bevorzugt und gezielt solche Petitionsbeschwerden
von Bürgern auf, die gerade die Grundrechtswidrigkeit gewisser Gesetze
und Rechtsverordnungen signalisierten. Das geschah auch deswegen, weil
bei der Feststellung von Grundrechtsverletzungen die "Gutachten"
(zakljucenija) des Komitees die stärkste Rechtswirkung, nämlich
die kassatorische Rechtswirkung hatten, also die Aufhebung der beanstandeten
Rechtsnormen bewirkten, gleichgültig, ob es sich um ein Gesetz oder
um einen untergesetzlichen Akt handelte . Fast alle der vom Komitee in
den anderthalb Jahren seiner Existenz durch Gutachten entschiedenen 21
Fälle dienten daher dem Schutz der Grundrechte! - ein Ruhmesblatt
seiner unvergessenen Vorsitzenden Sergej S. Alekseev und Boris M. Lazarev!
Es ist offensichtlich, dass die Befugnis, ein abstraktes Normenkontrollverfahren
auf eigene Initiative, ex officio einzuleiten, die Voraussetzung dafür
ist, dass grundrechtsbezogene Petitionsbeschwerden eine Chance auf Wirkung
und Erfolg bekommen. Allerdings steht die anlassunabhängige Verfahrenseinleitung
aus eigener Initiative im Widerspruch zu dem Grundgedanken, zu der ratio
esendi des Gerichts im allgemeinen und damit auch des Verfassungsgerichts.
Denn es ist eine wesentliche Voraussetzung und Bedingung für die
Gewährleistung der politischen Unvoreingenommenheit, Neutralität,
Unparteilichkeit und Leidenschaftslosigkeit eines Verfassungsgerichts,
dass es sich nicht selbst, aktiv "seine" Fälle nach mehr
oder weniger politischen Erwägungen und Kriterien aussuchen kann,
sondern in passiver Lage auf Prüfungsanträge von anderer, fremder
Seite mit bestimmten Problemfällen und Streitfragen wartet. Mustergültig
bestimmt daher die Verfassung der Republik Armenien in Art. 100 Abs. 2:
"Das Verfassungsgericht behandelt eine Angelegenheit nur, wenn ein
entsprechender Antrag vorliegt." Dementsprechend verfügen die
Verfassungsgerichte in den Nachfolgestaaten der UdSSR, abweichend vom
Komitee der Verfassungsaufsicht, in der Regel nicht mehr über die
Befugnis zur Verfahrenseinleitung aus eigener Initiative . Eine Ausnahme
bildete Weißrussland aufgrund seiner Verfassung von 1994 (Art. 127
Abs. 4). Das Verfassungsgericht durfte "nach seinem Ermessen Fragen
der Vereinbarkeit von Normativakten jedes staatlichen Organs und jeder
gesellschaftlichen Organisation mit der Verfassung, den Gesetzen und den
von der Republik Weißrussland ratifizierten völkerrechtlichen
Verträgen prüfen" . Durch die einschneidende Verfassungsrevision
vom 24.11.1996 wurde das ex-officio-Verfahren abgeschafft (vgl. Art. 116
n.F.). Doch schon 1997 und seither mit wachsender Intensität hat
das Verfassungsgericht einen Weg gefunden, dem Bürger trotz fehlender
Individualbeschwerde ein gewisses funktionales Äquivalent zu verschaffen.
Ansatz ist die Petitionsbeschwerde gemäß Art. 40 der Verfassung
Weißrusslands . In Verbindung mit seinem Recht, sich mit förmlichen
Vorschlägen an andere Staatsorgane zu wenden (Art. 7 VerfGG), hat
das Verfassungsgericht seit 1998 ein "weiches" Individualbeschwerdeverfahren
in folgenden Schritten entwickelt:
Entsprechend seiner Verpflichtung gemäß Art. 40 Abs. 2 der
Verfassung nimmt das Gericht die Petitionen an, berät - 2. - über
den Fall, trifft - 3. - eine Entscheidung über die Begründetheit
der Petition in der Sache und schließt - 4. - das Prüfungsverfahren
in einer Form, die einer Gerichtsentscheidung angenähert ist, ab.
Diese "Entscheidung" verknüpft sie - 5. - mit einem "Vorschlag",
auf welchem Wege die Verfassungswidrigkeit beseitigt werden könne,
und stellt die Feststellung der Verfassungswidrigkeit mitsamt dem Vorschlag
- 6. - dem betreffenden Staatsorgan förmlich zu. Darüber hinaus
veröffentlicht das Verfassungsgericht die "Entscheidung"
- 7. - im Gesetzblatt Weißrusslands und kümmert sich schließlich
- 8. - nach Ablauf der im Vorschlag gesetzten Vollzugsfrist darum, ob
bzw. wie die Verfassungswidrigkeit beseitigt wurde.
In der Praxis waren Adressaten der Vorschläge des Verfassungsgerichts
bislang die Regierung und das Parlament. Zwar reagierten sie mitunter
ablehnend, insgesamt aber konstruktiv .
IV. Zur Frage eines Verfassungsvorbehalts
für Individual-beschwerden
Die grundsätzliche Frage,
welche Rechtsinstitute, Organe und Verfahren nicht einfach nur auf der
Ebene des Parlamentsgesetzes, sondern kraft ihres Gewichts, ihrer Bedeutung
und Tragweite für Staat, Gesellschaft und Bürger in der Verfassungsurkunde
selbst geregelt werden müssen, richtet sich als erstes an die Verfassungstheorie
und die Verfassungslehre. Zugleich ist sie ein wichtiges Thema der Verfassungspolitik.
In den Grundzügen dessen, was unbedingt in den Text der Verfassung
gehört und was, weil weniger bedeutsam, vielleicht verzichtbar ist,
sind sich Theorie und Praxis weitgehend einig. Das beweisen jedenfalls
die Ergebnisse der vergleichenden Verfassungswissenschaft. In Randfragen
und im Detail bestehen hier freilich viele Unklarheiten und folglich Meinungsverschiedenheiten,
die mit guten Gründen so oder auch anders gelöst werden können.
Die Frage nach Geltung und Reichweite eines Verfassungsvorbehalts betrifft
aber nicht nur die originäre Verfassungsgebung, sondern behält
durchaus ihre Aktualität auch für eine geltende Verfassung.
Darüber, dass die Einführung eines "Verfassungs-"Gerichts
legitimerweise nur durch eine Änderung bzw. Ergänzung der Verfassung
erfolgen kann, wird man wohl schnell eine Einigung erzielen können,
aber schwieriger wird das Problem, wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit,
ausgestattet mit diversen Kompetenzen, zwar bereits Teil der geltenden
Verfassung ist, die Individualbeschwerde aber fehlt und starke politische
Kräfte ihre Einführung fordern und den Plan verfolgen, die Individualbeschwerde
durch ein einfaches Gesetz einzuführen weil sie keine verfassungsändernde,
sondern nur die gesetzesändernde Mehrheit im Parlament besitzen.
Ist dies ohne weiteres zulässig oder gilt für die Individualbeschwerde
der Verfassungsvorbehalt?
Bekanntlich ist dies ein Problem, das seit einiger Zeit in juristischen
Fachkreisen der Republik Armenien diskutiert wird und das in dem Maße
auch praktische Bedeutung erlangen könnte, wie das Schicksal der
vom Staatspräsidenten angestrebten Revision der Verfassung des Landes
in der Schwebe bleibt.
Der Verfassungstheoretiker und der Spezialist für Verfassungsvergleichung
werden, von ihren Grundsätzen ausgehend, wohl übereinstimmend
den Standpunkt vertreten, die Kompetenzen und Verfahren des Verfassungsgerichts
müssten im Verfassungstext selbst geregelt werden. In der Tat gibt
es dafür Gründe, aber so einfach ist das Problem nicht zu lösen.
Vielmehr hängt die Antwort auf die Frage, ob die Einführung
der Individualbeschwerde der Verfassungsänderung bedarf, entscheidend
davon ab, mit welcher Konzeption, Systematik und Wortlaut die jeweilige
nationale Verfassung die Verfassungsgerichtsbarkeit regelt. Deutschland
bietet insofern ein interessantes und lehrreiches Beispiel, denn das Grundgesetz
führte durch seine ursprüngliche Fassung (23.5.1949) zwar die
Verfassungsgerichtsbarkeit mit einem Kompetenzkatalog ein (Art. 93), nicht
jedoch die Individualbeschwerde. Sie wurde erst 1951 durch das Gesetz
über das Verfassungsgericht (§§ 90 ff.) eingeführt.
Wäre der Kompetenzkatalog des Gerichts im Grundgesetz abschließend
bestimmt gewesen, dann hätte der Gesetzgeber mit diesem Vorgehen
verfassungswidrig gehandelt. Art. 93 Abs. 2 GG bestimmte jedoch damals
und bestimmt noch immer: "Das Bundesverfassungsgericht wird ferner
in den ihm sonst durch Bundesgesetz (!) zugewiesenen Fällen tätig."
Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz konnte also dementsprechend die Individualbeschwerde
einführen; sie war durch Abs. 2 vom Willen des Verfassungsgebers
pauschal mitumfasst. Eine solche Kompetenzöffnungs- oder -erweiterungsklausel
kennen viele nationale Verfassungen. Die Verfassung der Republik Armenien
enthält nichts dergleichen. Der von ihr bestimmte Kompetenzkatalog
des Verfassungsgerichts (vgl. Art. 100) ist abschließend. Allerdings
steht Art. 100 der Einführung einer Individualbeschwerde in der Form
der Beschwerde gegen Gesetze und untergesetzliche Normativakte der Exekutive
nicht entgegen, denn Art. 100 Ziffer 1 lässt offen, ob nicht auch
auf Initiative eines Individuums die Verfassungsmäßigkeit solcher
Akte vom Verfassungsgericht überprüft werden könnte. Die
Möglichkeit, das Verfahren der Normenkontrolle im Sinne von Art.
100 Ziffer 1 auch durch einen allein durch das Verfassungsgerichtsgesetz
Armeniens eingeräumten Individualantrag in Gang setzen zu können,
wird jedoch durch Art. 101 verbaut. Die Vorschrift beschränkt nämlich
in Abs. 1 das Recht, sich an das Verfassungsgericht mit irgendwelchen
Verfahrensanträgen wenden zu können, definitiv auf vier Verfassungsorgane
bzw. Funktionsträger und Teile von ihnen. Private Individuen, Menschen
oder Bürger, sind nicht darunter; sie sind ersichtlich ausgeschlossen.
Zu Recht hat die Venezianische Kommission des Europarats in ihrer gutachterlichen
Bemerkung zu dem Problem festgestellt, dass die Regelung des Art. 57 der
Verfassung nur scheinbar eine Erweiterung des Kataloges der Antragsteller
gemäß Art. 101 der Verfassung darstellt .
Es führt daher kein Weg an der Feststellung vorbei: Der Verfassung
der Republik Armenien liegt ersichtlich das Konzept zugrunde, das Antragsrecht
zum Verfassungsgericht restriktiv und abschließend im Verfassungstext
zu bestimmen. Ein anderes, entgegengesetztes Konzept verfolgt z. B. die
Verfassung Polens (Art. 191). Für die Einführung der Individualbeschwerde
in der Republik Armenien gilt der Verfassungsvorbehalt im strengsten Sinne:
der Verfassungstext muss dafür speziell geöffnet, also geändert
werden. Ob dies rechts- und verfassungspolitisch zweckmäßig
wäre, ist eine andere Frage, die letztlich nur vom armenischen Volk
entschieden werden kann. Die oben dargelegte Übersicht über
die möglichen Formen der Individualbeschwerde liefert eine breite
Auswahl für eine mögliche Entscheidung.
Резюме
Несмотря на то, что
конституционное судопроизводство в течение последних десятилетий 20-го
века получило большое распространение в мире и, в частности, в посткоммунистических
государствах Центрaльной и Восточной Европы, процедура защиты конституционных
прав на основании индивидуальных жалоб отсутствует в законодательстве
многих из этих стран. Это относится и к Республике Армения. С точки зрения
сравнительного правоведения, одной из основных причин подобной сдержанности
законодателя, по всей видимости, является опасение, что конституционные
суды могут потонуть в лавине индивидуальных жалоб. Другим следствием могла
бы стать перегруженность Конституционного Суда, которая затронула бы его
функциональную дееспособность и нанесла бы удар по его авторитету в государстве.
Эти опасения следует принимать всерьез. Разумеется, их не следует переоценивать.
Нельзя забывать о том, что, во-первых, есть различные формы индивидуальных
жалоб и, во-вторых, что индивидуальная жалоба не может обладать одинаковым
эффектом во всех правовых системах и во всякой правовой культуре. Наконец,
не следует закрывать глаза на то, что граждане государств, являющихся
членами Совета Европы и участниками Европейской Конвенции о защите прав
человека и основных свобод, имеют право подать индивидуальную жалобу в
Европейский Суд по Правам Человека в Страсбурге, то есть в наднациональный
судебный орган. Этот факт свидетельствует скорее в пользу того, что введение
индивидуальной жалобы в национальное конституционное право не стоит превращать
в фундаментальную проблему. Решение о введении индивидуальной жалобы должно
приниматься в спокойной, рассудительной обстановке с учетом достоверных
сведений о ее возможных разновидностях, уже применявшихся в Европе на
практике. Представленный обзор дает общее представление об основных формах
индивидуальной жалобы. Вначале он описывает индивидуальную жалобу против
нормативных правовых актов (законы, постановления органов исполнительной
власти и т.д.). Формами этих жалоб являются общедоступная жалоба и жалоба
на лично коснувшиеся человека нарушения основных прав, которая может подаваться
частично вне пределов и частично — в пределах конкретного правового спора
в суде общей юрисдикции. Упоминается также и индивидульная жалоба на решения
административных органов и судов. Наконец, речь идет и об индивидуальных
жалобах, которые имеют необязательный характер, а именно: характер обращений
в Конституционный Суд и которые, в сочетании с полномочием Конституционного
Суда по возбуждению производства по контролю правовых норм ex officio,
могут привести к принятию постановления по поднятому в обращении вопросу,
однако не обязательно приводят к этому.
Вне зависимости от
того, на какой процедуре судопроизводства в конечном итоге остановит свой
выбор национальный законодатель, очевидно, что введение индивидуальной
жалобы допустимо только в том случае, если конституция в явной или скрытой
форме - "между строк" - предусматривает такую возможность.
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