Prof. Dr. h. c. mult. Rolf Knieper

Zusammenfassung

Der Beitrag beschäftigt sich mit den Verfassungsprinzipien des territorialen Staatsaufbaus, die sich der Problematik der Abgrenzung von Kompetenzen und gleichzeitig dem Zusammenhalt des Ganzen stellen müssen. Das ist für föderale Staaten selbstverständlich, gilt aber auch im wirklichen Leben auch für zentralisierte Staatsgebilde einerseits und lockerere Zusammenschlüsse andererseits. Die Problematik wird an Beispielen aus im wesentlichen der europäischen und der deutschen Situation abgehandelt. Bei diesen Beispielen steht die sektorale und territoriale Verteilung finanzieller Ressourcen im Vordergrund. Obwohl zugestanden wird, dass es sich jeweils um eminent politische Fragen handelt, wird doch auch die (verfassungs-)rechtliche Dimension herausgestellt und damit die Bedeutung, welche der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Kanalisierung der Konflikte in für alle Streitparteien annehmbare gewaltfreie Verfahren und friedliche Lösungen zukommt.


Abgrenzungen und Zusammenhalt in der Organisation des Staates:
Verfassungsprinzipien und verfassungsgerichtliche Konkretisierungen

I. Fragestellung
Die folgenden Ausführungen setzen das Bestehen einer größeren Einheit voraus, die so organisiert ist, dass bestimmte Kompetenzen, Machtbefugnisse und Gewalten in ihrem Inneren auf verschiedene Institutionen verteilt sind.

Wer die politischen Debatten und tatsächlichen, nicht selten gewaltsamen Geschehnisse innerhalb der und zwischen den Nachfolgestaaten der Sowjetunion verfolgt, wird erkennen, dass hier noch ein gewaltiger Nachholbedarf für die Durchsetzung fairer und realitätstauglicher Rechtsprinzipien und ihre Unterstützung in die Praxis besteht. Der Beitrag soll dazu dienen, diesen Bedarf bewusst zu machen.

II. Grundsätzliche Erwägungen
Die Motivationen für eine Aufteilung sind unterschiedlich. Sie mögen in der Überzeugung liegen, dass eine Aufteilung von Kompetenzen zu größerer Sachnähe und Effizienz bei der Erledigung von vielfältigen Aufgaben führt, sie mögen durch Bürgernähe, die Suche nach Selbstbestimmung und die Hoffnung auf die Erleichterung demokratischer Mitsprache und auf Transparenz der Entscheidungsprozesse begründet sein. Sie mögen aber auch dadurch entstanden sein, dass kleinere Einheiten mehr oder weniger freiwillig zu eben dieser größeren Einheit zusammengefügt worden sind und im Prozeß des Zusammenfügens ein Kompromiß ausgehandelt werden muß, der bestimmte Kompetenzen bei den kleineren Einheiten beläßt, um den Zusammenschluß akzeptabel zu machen. Selbst wenn ein Zusammenschluß gewaltsam zustande kommt, zum Beispiel bei Territorialeinheiten durch Annexion, zeigt die historische Erfahrung, dass jedenfalls im Anschluß eine juristische, vertragliche Absicherung des neuen Zustandes gesucht wird, wozu es notwendig ist, dass im klassischen Völkerrecht - anders als im Privatrecht - ein durch Gewalt initiierter Vertrag (zum Beispiel ein Friedensvertrag) gültig ist und auch nicht zur Anfechtung berechtigt.

Die Aufteilung der Kompetenzen und dementsprechend die Einrichtung und/oder der Bestand besonderer Einheiten mag territorialen oder sektoralen Kriterien verpflichtet sein, sich also in der Untergliederung einer größeren territorialen Einheit in kleineren Einheiten vollziehen, die über mehr oder weniger große Selbständigkeit verfügen, oder zu einer inhaltlichen Kompetenzverteilung und Gewaltenteilung führen, also zum Beispiel im konstitutionellen Staat zur Trennung von legislativer, exekutiver und judikativer Gewalt.

Die Ausgestaltung der Kompetenzverteilungen und die Gewichte der einzelnen Gewalten innerhalb der Gesamtheit können sehr unterschiedlich sein. Sie bewegen sich auf der einen Seite bis zu dem Punkt, wo eine - territoriale oder sektorale - Gewalt von einer anderen vollständig aufgesogen wird, so dass sie vielleicht noch dem Namen, nicht aber mehr dem Inhalt nach als Kompetenzträger existiert. Ein solcher Zustand ist erreicht, wenn zum Beispiel die Exekutive nach Belieben die Arbeit des Parlaments diktiert oder - über das berühmte „Telefonrecht" - alle Entscheidungen der Gerichte, oder wenn einem Gliedstaat alle Kompetenzen entzogen werden. Auf der anderen Seite ist die Grenze einer Aufteilung der Gewalten erreicht, wenn eine Einheit vollständig selbständig handelt und eine Rücksichtnahme auf das Gesamte mit Erfolg und auf Dauer vollständig verweigert.

Innerhalb dieser Extreme des Aufsaugens und des Auseinanderfallens ist eine Vielzahl von Gestaltungsvarianten möglich und es ist sicherlich gut, eine genaue Aufgaben- und Kompetenzverteilung zu fixieren, wobei man sich der Problematik bewußt bleiben muß, dass eine Fixierung Verschiebungen und Veränderungsnotwendigkeiten in der Zeit nicht ausschließen kann.

Obwohl hier territoriale Einheiten im Vordergrund stehen, gelten auf einer sehr abstrakten Ebene die Überlegungen zu Kompetenzverteilungen und -zentralisierungen für alle Einheiten, also auch für andere juristische Personen des öffentlichen Rechts wie des Privatrechts, für politische Parteien, Religionsgemeinschaften oder Kapitalgesellschaften. Entgegen dem Anschein in manchen Fällen kann es eine vollständig monolithische, von einem Punkt oder einer Person vollständig zentral gelenkte komplexe Einheit nicht geben. Wo immer verschiedene soziale, professionelle, weltanschauliche, politische oder andere Interessen zusammentreffen, ist eine Verteilung von Kompetenzen und die Notwendigkeit ihres Austarierens gegeben. Je weniger explizit dies anerkannt, offen thematisiert und voraussehbaren Spielregeln unterworfen wird, desto erratischer sind die Entscheidungsprozesse. Die Alternative zu rechtlich fixierten Verfahren ist oft ein informelles Geflecht persönlicher Beziehungen, ein Handeln hinter den Kulissen, ein dauerndes Abstecken von Machtsphären.

Bei den verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der oben angegebenen Extreme scheint mir eine Beobachtung offensichtlich: je weniger aufgegliedert die Kompetenzen, je zentralistischer also die Machtbefugnisse organisiert sind, desto weniger ausgeprägt ist der Bedarf zur Koordinierung, zur Herstellung von Gemeinsamkeiten, zur Wahrung des Gesamtinteresses. Andererseits: wenn überhaupt eine größere Einheit erhalten werden soll, dann müssen akzeptierte Mechanismen bestehen, die widerstehende oder gar auseinanderstrebende Interessen austarieren und in gewissem Umfang zu einem Allgemeininteresse zusammenführen. Je höher der Grad der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Teilgewalten, desto prekärer und schwieriger wird der Prozeß der Formulierung und Durchsetzung der Allgemeininteressen. Das gilt insbesondere dann, wenn dieses Allgemeininteresse, ein gemeinsames Ziel, ein kollektives Anliegen nicht klar und inhaltlich gehaltvoll definiert sind. Während zum Beispiel das klare Ziel einer Handelsgesellschaft die Erzielung von Gewinn ist oder einer Partei die Durchsetzung eines politischen Programms, ist eine ähnliche Zielbestimmung bei territorialen Einheiten in der Regel viel schwieriger, komplexer und selbst wo sie versucht wird, häufig unpräzise. Auch der erfolgreichste, beste Weg zur Erreichung eines Ziels oder sogar der Definition des spezifischen Allgemeininteresses stellt sich häufig erst im Prozeß selbst heraus. Nicht selten verbergen sich hinter einem behaupteten Allgemeininteresse in Wahrheit Partikularinteressen, während sich umgekehrt die subjektive Verfolgung von Partikularinteressen im Ergebnis als objektive Realisierung des Allgemeininteresses darstellen mag.

III. Die Grundpflicht zu wechselseitiger Rücksichtnahme
Trotz aller Schwierigkeiten halte ich es für unabweisbar, dass alle Träger von Machtbefugnissen sowohl auf den Respekt aller anderen Träger von Machtbefugnissen und ihrer Kompetenzen als auch auf die Wahrung der Einheit verpflichtet sein müssen. Selbstverständlich ist jede Institution berechtigt und verpflichtet, die ihr zugewiesenen oder originär zustehenden Kompetenzen voll auszuschöpfen und auszuüben; dennoch steht die Ausübung unter dem Leitmotiv der Rücksichtnahme. Zu Recht hat etwa Oeter darauf hingewiesen, dass es sich besonders in der Sphäre des Staatlichen dabei um politische Konstellationen und Probleme handelt, die nicht vorschnell und übermäßig verrechtlicht werden sollten . Dennoch kommt der Prozeß ganz ohne rechtliche Markierungen und (verfassungs-)gerichtliche Kontrollen nicht aus, nicht zuletzt um den Einsatz von Übermacht und physischer Gewalt überflüssig zu machen oder wenigstens einzudämmen.

Dass es sich dabei nicht um eine akademische und voluntaristische Meinung und Debatte handelt, belegt die Beharrlichkeit, mit der gerade in Einheiten, in denen eine starke Aufgabenverteilung und eine selbstbewußte Kompetenzwahrnehmung besteht, in der gerichtlichen und außergerichtlichen Praxis Grundsätze der Rücksichtnahme auf die jeweils anderen und der Verpflichtung auf das Gesamtinteresse eingefordert werden und dies auch dann, wenn sie vom positiven, gesetzten Recht nicht ausdrücklich vorgeschrieben sind.

So stellt das deutsche und europäische Kapitalgesellschaftsrecht die Befugnisse der einzelnen Gesellschaftsorgane präzise auf und grenzt sie voneinander ab. Über die Formen der Interaktion ist wenig ausgesagt. Rechtsprechung und Lehre haben dieses gesetzliche Vakuum gefüllt. Sie konstruieren den Bestand von Treuepflichten zum Beispiel des Managements gegenüber den Gesellschaftern oder die Pflicht zur Wahrung der Belange der Gesamtgesellschaft. Diese Pflichten bestehen neben dem gesetzlich eingeräumten und unbestrittenen Recht zur selbständigen Geschäftsführung .

Im Prinzip gilt im Staatsorganisationsrecht nichts anderes. Juristische Texte, die einem Zusammenschluß von Teilstaaten oder gar Staaten zu einer größeren Einheit Form geben, legen in der Regel mehr Gewicht darauf, die Kompetenzaufteilungen der territorialen Einheiten genau zu beschreiben und von den Kompetenzen der Gesamtheit abzugrenzen; das gilt für die Kompetenzen in der Gesetzgebung, der Verwaltung, der Steuererhebung, der Gerichtsbarkeit. Auch die sektorale Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative werden in den Texten schwergewichtig als Problem der Abgrenzung voneinander betrachtet. Eher selten sind Texte, die - wie zum Beispiel Art. 10 Abs. 2 des EWG-Vertrages - die Mitglieder explizit verpflichten, die im Vertrag festgelegten Ziele nicht zu behindern, sondern zu befördern, unabhängig davon, welche Materien dieser oder jener Institution zur Regelung und Verwaltung anvertraut sind .

Beinahe unabhängig aber von der Formulierung in Verfassungsurkunden und Gründungsverträgen größerer Einheiten setzt sich - nicht unähnlich zum Gesellschaftsrecht - die Auffassung durch, dass ein Zusammenhalt der Einheit nicht möglich sei ohne ein Geflecht wechselseitiger Rücksichtnahme und Treuepflichten, die in jede Richtung gehen, das heißt von den Teileinheiten zur Gesamtheit und umgekehrt, aber auch innerhalb der Teileinheiten. Das gilt sowieso in Zentralstaaten, aber auch in demokratischen Bundesstaaten, deren Verfassung Grundsätze der Gewaltenteilung realisiert. Sicherlich wird immer wieder betont, dass die Teilstaaten und der Gesamtstaat ihre eigenen, voneinander abgegrenzten Sphären haben und ihre Kompetenzen in eigener Verantwortung ausüben und dass auch die Verfassungsorgane ihre jeweiligen Sachbefugnisse in jeweils besonderer Zuständigkeit ausüben und sich gegen Einmischungen verwahren dürfen und müssen. Gleichzeitig aber findet sich beim Auftauchen von Konflikten wie ein roter Faden die Aussage, dass deren Lösung unter dem Leitmotiv der wechselseitigen Rücksichtnahme und der Treue zu stehen habe. Der auch im Gesellschaftsrecht verwendete Begriff der Treue wird jeweils zu einem Bindestrich-Wort konkretisiert: zur Bundestreue für die Mitglieder des Bundesstaates , zur Verfassungsorgantreue für das Verhalten von Legislative, Exekutive und Judikative , zur Unionstreue für den Zusammenhalt der Europäischen Union .

Die Begründungen ergeben sich aus der allgemeinen Verpflichtung zur Realisierung des Sozialstaats, des Rechtsstaats, der Gleichwertigkeit oder der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, aus der Einsicht, dass in Zeiten der Globalisierung von Handel und Kommunikation, aber auch von Umwelt- und anderen Gefahren Souveränitäten und Unabhängigkeiten sich mediatisieren , dass verschiedene Rechts- und Sozialordnungen sich wechselseitig verschränken, dass das Handeln der verschiedensten Akteure bei aller Selbständigkeit wechselseitig aufeinander einwirkt. Es ist also richtig, darauf hinzuweisen, dass alle diese Begriffe, Benennungen, Feststellungen hoch abstrakt und unbestimmt bis zur Inhaltslosigkeit sind, dass sie benutzt werden können, um die verschiedensten Ergebnisse begründen und legitimieren zu suchen. Diese Einsicht macht die Aussagen aber nicht unrichtig (sie gelten für viele Begriffe besonders des Verfassungsrechts), sondern warnen zu Recht davor, dass in der praktischen Handhabung ein hohes Maß an Verantwortung und Denkgenauigkeit, bewußter Professionalität und kritischer Beobachtung erforderlich sind.

Nur eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die sich dieser Verantwortlichkeit und Schwierigkeit bewusst wird und die Herausforderung anzunehmen bereit ist, vermag - wie keine andere Institution - in diesem sensiblen Bereich die Momente der Abgrenzungen und des Zusammenhaltes der territorialen Staatsgewalten mit verfassungsrechtlicher Argumentation zum Ausgleich zu bringen.

In dieser Perspektive hat zum Beispiel das deutsche Bundesverfassungsgericht den zugegebenermaßen vagen Rechtsbegriff der Bundestreue oder des bundesfreundlichen Verhaltens benutzt, um Pflichten des Bundes gegenüber den Ländern, Pflichten der Länder untereinander und Pflichten der Länder gegenüber dem Bund zu begründen. Es hat zum Beispiel die Pläne der Bundesregierung durchkreuzt, eine besondere eigene private Fernsehgesellschaft zu gründen, da sie damit ihre verfassungsrechtlichen Kompetenzen überschritten hätte und da sie in der Art des Vorgehens, des Verhandelns, der Auswahl der Rechtsformen rücksichtslos gehandelt hatte und damit gegen die Pflicht zum bundesfreundlichen Verhalten verstoßen hätte . Es hat Sonderwege der Länder bei der Beamtenbesoldung verbaut, da damit die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, aber auch das Gleichgewicht bei den Staatsausgaben gefährdet und dementsprechend das Prinzip der Bundestreue verletzt worden wäre . Es hat in dem politisch zwischen manchen Ländern und verschiedenen Bundesregierungen höchst umstrittenen Bereich der Atompolitik das Prinzip der Bundestreue benutzt, um Pflichten zur wechselseitigen Information, zur inhaltlichen Abstimmung von Argumentationen, zur Rücksichtnahme auf die Positionen der einen und der anderen zu begründen .

IV. Die regionale Aufteilung finanzieller Ressourcen
Es hat endlich die Verteilung von Einnahmen und Ausgaben zwischen den Ländern und zwischen Bund und Ländern wesentlich unter den Grundsatz der Bundestreue gestellt, der allerdings hier in der Verfassung schon vorgegeben ist. Auf diese im Moment wieder einmal kontroversen wechselseitigen Verpflichtungen zum horizontalen und vertikalen Finanzausgleich zwischen den Ländern und zwischen Bund und Ländern will ich im folgenden aus mehreren Gründen mit einigen Worten eingehen (das wichtige Sonderproblem der Finanzierung der Gemeinden erörtere ich hier nicht, weil es keine wesentlichen argumentativen Sonderaspekte aufweist).

Zum ersten sind meines Erachtens Verpflichtungen zum Finanzausgleich in der deutschen Verfassung, insbesondere in Art. 107 GG, im Gesetz „Über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern" von 1993 in der Fassung vom 20.12.2001 und im Gesetz „Über verfassungskonkretisierende allgemeine Maßstäbe für die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens, für den Finanzausgleich unter den Ländern sowie für die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen (Maßstäbegesetz)" vom 09. September 2001 Konkretisierungen der Bundestreue, des bundesfreundlichen Verhaltens und des Rechtsgrundsatzes der wechselseitigen Rücksichtnahme. Diese Verankerungen relativieren die Auffassung, es handele sich bei den Grundsätzen um ungeschriebenes Verfassungsrecht. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang von dem „bundesstaatlichen Gedanken der Solidargemeinschaft, des bündischen Einstehens füreinander" gesprochen .

In der deutschen Literatur wird neben dieses bundesstaatliche Prinzip häufig das Prinzip der Sozialstaatlichkeit gestellt und betont, dass im Bundesstaat „die finanziellen Voraussetzungen für eine gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung mit öffentlichen Leistungen geschaffen werden sollen" , damit die Gleichwertigkeit oder gar Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse gewährleistet ist.

Ich persönlich halte dieses Argument für wertvoll, meine aber im Gegensatz zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1986, das die Pflicht zum Finanzausgleich ausdrücklich auf den föderativen Bundesstaat beschränkt hat, dass es in seinem allgemeinen Gehalt nicht auf bundesstaatliche Strukturen beschränkt ist, sondern in der hier vorgetragenen Orientierung auf alle größeren (territorialen) Einheiten anwendbar ist, die aus kleineren, in unterschiedlicher Weise verschiedenen Einheiten zusammengesetzt sind und die auf Dauer real existieren sollen. Staatlichkeit - gleichgültig ob in föderaler oder zentralistischer Organisation - kann sich ohne Finanzausstattung nicht entfalten, ebensowenig wie überregionale mehr oder weniger lockere Verbände. (Steuer)-Einnahmen und die Finanzkraft sind - wie der Nationalökonom Joseph Schumpeter schön formuliert hat - „die materielle Existenz des Staates" .

Auf der einen, nicht einmal bundesstaatlich oder föderal zusammengehaltenen Seite, steht z.B. die Europäische Union, in der ein klares, rechtlich verankertes Bewußtsein dafür besteht, dass der Einigungsprozeß langfristig zum Scheitern verurteilt wäre, wenn nicht unionsweit die Angleichung und Harmonisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Bürger zum verpflichtenden Programm erhoben würde, das die Mitgliedstaaten, aber auch die Union selbst zu realisieren haben. Die Parallele zur nationalen sozialstaatlichen Verpflichtung auf die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist offensichtlich. Entsprechend formulieren nicht nur die Präambel und die Grundgesetzartikel des Gründungsvertrages der Europäischen Gemeinschaft diese Ziele als verbindliches Recht, sondern es werden in einer Vielzahl von Fonds der Europäischen Union selbst Finanzmittel zu Transferleistungen zur Verfügung gestellt, um diesem Prozeß einen materiellen Gehalt zu geben. An anderer Stelle habe ich persönlich darüber hinausgehend argumentiert, dass die Transferleistungen aus den Industriestaaten in die sogenannten Entwicklungsländer nichts mit einer großzügigen Hilfe zur Entwicklung dieser Staaten zu tun hat, sondern als Beiträge zur Struktur- und Regionalpolitik einen notwendigen Ausgleich leisten zur Herstellung und Erhaltung der Funktionsfähigkeit der nicht nur ökonomisch, sondern zunehmend auch politisch sich globalisierenden Verhältnisse.

Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die zentralistisch organisierten Staaten. Für sie ist die Terminologie des Finanzausgleichs sicherlich unangemessen, meines Erachtens nicht aber das Prinzip. Wenn sie als vollständige und territorial einheitliche Staaten erhalten bleiben sollen, darf auf die Dauer keine Region ohne angemessene Finanzausstattung bleiben. Die Geschichte ist voll von Beispielen, wo hoch zentralisiert organisierte Staaten, die es nicht geschafft haben, in den verschiedenen Regionen ihres Territoriums über angemessene und reale Finanzleistungen eine Angleichung oder Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse der Bevölkerungen herzustellen und zu erhalten, vielleicht eine Weile mit Gewalt zusammengehalten werden konnten, dass sich die Einheit auf Dauer aber zersetzt. Dieser Prozeß kann die Form einer offenen Revolte gegen die Zentralgewalt annehmen oder sich schleichend vollziehen. Auf Dauer aber setzt sich die Logik der in der Finanzausstattung liegenden „materiellen Existenz des Staates" regelmäßig auch gegen Gewalt und Einheitsideologien durch.

Wenn hier jetzt also der Mechanismus des deutschen Finanzausgleichs dargestellt wird, so ist gleichzeitig zu betonen, dass hinter der spezifisch föderalen Ausprägung, die für die konkrete deutsche Situation offensichtlich ist, immer auch allgemeinere Prinzipien liegen, die über den Bundesstaat hinausweisen und sowohl für lockerer organisierte Einheiten einerseits und für den zentralistischen Staat andererseits Bedeutung haben.

Das spezifisch föderale Moment kommt in der Ausgangssituation zum Ausdruck: Die Finanzverfassung des Grundgesetzes realisiert die Eigenstaatlichkeit der Länder (und des Bundes) dadurch, dass jedem einzelnen eigene öffentliche Einnahmen zustehen, die ganz überwiegend Steuereinnahmen sind und die aus eigenem Recht erhoben werden. Diese Einnahmen erlauben es den Ländern (und dem Bund), ihre staatlichen Aufgaben und Ausgaben zu erfüllen, die nicht von der Zentrale aus delegiert sind, sondern von vornherein als gesonderte und eigenständige bestehen. Dieses auf Dauer angelegte Konzept wird ergänzt, um Situationen ausgleichen zu können, in denen ein Land für eine begrenzte Zeit und für eine bestimmte Aufgabe einer Sonderbelastung ausgesetzt ist. Für bedeutende Investitionen, die konjunkturelle Störungen oder strukturelle Ungleichgewichte zwischen den Ländern ausgleichen sollen, kann der Bund einem Land besondere Finanzhilfe gewähren (Art. 104a Grundgesetz).

Dieses Grundkonzept der Verteilung von Einnahmen und Ausgaben ist genuin bundesstaatlicher Natur und hat trotz der Möglichkeit zu temporären Finanzhilfen noch nichts mit einem Finanzausgleich zu tun. Dieser kommt erst dann ins Spiel, wenn sich herausstellt, dass die Normalität der bundesstaatlichen Verteilung von Einnahmen und Ausgaben zu großen Ungleichgewichten zwischen den einzelnen Ländern führt, weil sie eine unterschiedliche Finanzkraft haben. In diesen Fällen sind die Länder mit einer höheren Finanzkraft verpflichtet, den Ländern mit unterdurchschnittlicher Finanzkraft Ausgleichszahlungen zu leisten. Diese Pflicht ergibt sich aus Art. 107 GG, dem Finanzausgleichsgesetz von 1993 und dem Maßstäbegesetz von 2001. Über diesen horizontalen Finanzausgleich hinaus kann der Bund zusätzlich durch Geldzahlungen die Leistungsschwäche von Ländern kompensieren (vertikaler Finanzausgleich).

Über die Modalitäten der Berechnung der Finanzkraft und die Höhe der Ausgleichszahlungen wird praktisch seit dem Bestehen der Bundesrepublik gestritten, wobei nach der Wiedervereinigung der Streit an Schärfe zugenommen hat. Der Streit führt regelmäßig zum Bundesverfassungsgericht, das seine letzte Entscheidung im Jahre 1999 gefällt hat . Auf die Darstellung dieser - sehr wichtigen - (finanz-)technischen und sozialpolitischen Einzelheiten kommt es hier nicht an. Wesentlich ist aber, dass bei allem Streit über die Höhe und die Modalitäten das Grundprinzip allgemein akzeptiert wird. Das mag damit zusammenhängen, dass inzwischen in Deutschland das Modell des Bundesstaates allgemein als positiv bewertet und verteidigt wird und dass ein Bewußtsein dafür existiert, dass die „Eigenstaatlichkeit der Länder einerseits und ihre Einbindung in die bundesstaatliche Solidargemeinschaft andererseits" (so die Wortwahl in Art. 6 des Maßstäbegesetzes) untrennbar zusammengehören. Hilfreich ist sicher auch die Erfahrung, dass die Finanzkraft keine statische Größe ist, sondern dass sie sich in der Zeit in den verschiedenen Ländern unterschiedlich entwickelt, so dass tendenziell jedes Land ausgleichspflichtig oder ausgleichsberechtigt werden kann.

Um eine ungefähre Vorstellung von den realen Größenordnungen zu geben, zitiere ich die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1999 angegeben Zahlen. Danach betrug das Volumen des horizontalen Finanzausgleichs im Jahre 1998 DM 13,52 Milliarden und der ergänzenden Zuwendungen durch den Bund an die leistungsschwachen Länder 25,65 Milliarden bei einem Gesamtvolumen des Bundeshaushalts im Jahre 1998 von etwa DM 460 Milliarden.

V. Sanktionen
Das sind hohe Beträge, die tatsächlich geleistet werden müssen. Dass dies, wenn durchaus auch mit Widerwillen und unter verschiedenem Protest, ohne Anwendung von Zwang geschieht, liegt sicherlich - wie bereits gesagt - daran, dass „die Bundesstaatlichkeit und gerade auch die föderale Einordnungs- und Befolgungspflicht der Länder heute allgemein akzeptiert ist" . Ein Rückgriff auf den sogenannten „Bundeszwang" (Art. 37 Grundgesetz) ist deshalb in der Praxis nicht nötig. Dennoch lauert dieses verfassungsrechtlich vorgesehene scharfe Instrument im Hintergrund (und leistet vielleicht durch seine bloße Existenz einen wirksamen Beitrag zur Einhaltung der Bundestreue). Es handelt sich bei ihm um eine unangenehme, exzeptionelle, von Hans Kelsen „primitive Rechtstrechnik" genannte „Bundesexekution" , mit der die Bundesregierung Zwangsmaßnahmen gegen ein Land einsetzen darf, das die ihm nach Verfassung oder Gesetz obliegenden Bundespflichten (zu denen auch die Pflicht zum Finanzausgleich gehört) nicht erfüllt.

Die möglichen Maßnahmen reichen von der bloßen Anweisung über die Sperrung von Finanzmitteln und die Ersatzvornahme bis hin zur polizeilichen Gewalt . Gerade in Zeiten, in denen die föderale Verfassungskultur noch wenig entwickelt war und grundlegende politische Konflikte zentrifugale Kräfte freisetzen konnten, hat es in Deutschland - wenn auch seltene - militärische Einsätze gegen widerspenstige Länder gegeben. Auch aus anderen Bundesstaaten wie z. B. den USA und der Schweiz wird dies berichtet. Dass es sich keineswegs um eine Besonderheit des Föderalismus handelt, belegen Frankreich und andere zentralistisch organisierte Staaten, wo besonders in früheren Zeiten durchaus regionale Konflikte mit militärischen Mitteln gelöst wurden. Inzwischen ist die „primitive Rechtstechnik" in den meisten Staaten praktisch in den Hintergrund getreten, weil sie wegen der Bereitschaft zu Respekt vor Kompetenzaufteilungen und gleichzeitig zum Zusammenhalt und Rücksichtnahme nicht mehr erforderlich ist. In der deutschen Verfassung ist sie darüber hinaus auch juristisch durch zwei Instrumente entschärft: zum einen muß der Bundesrat - also die Vertretung der Länder - der Zwangsmaßnahme zustimmen; zum anderen kann die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der Bundesregierung auf Antrag des betroffenen Landes vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden.

Damit erkennt und nutzt die deutsche Verfassung, dass eine professionell kompetente und neutrale, unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit einen politischen Konflikt zwischen den Staatsgewalten und Staatsorganen mit verfassungsrechtlicher Argumentation auf ein anderes Niveau heben kann, dass also mit der Verrechtlichung eines Konfliktes und seiner Kanalisierung in ein verfassungsgerichtliches Verfahren die Chanceeiner zu friedlichen und gewaltfreien Lösung wächst.

Selbstverständlich sind dies Fesseln der Machtausübung, deren praktische Wirksamkeit eine hohe rechtsstaatliche Kultur erfordert, die nicht feststeht, sondern die sich stets erneuern und regenerieren muß. Bei der dauerhaften Erfüllung dieser Aufgabe ist die Einsicht hilfreich, dass wechselseitige Rücksichtnahmen und die Einhaltung von Treuepflichten langfristig dem allgemeinen Interesse, aber auch den vielen durchaus legitimen partikularen Interessen weit mehr dienen als die rücksichtslose Durchsetzung kurzfristiger Vorteile. Es ist den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu wünschen, dass die theoretisch einfache Aussage in die praktisch schwierigen politischen Taten umgesetzt wird. Dabei kann dem Verfassungsgericht und unter bestimmten Umständen dem Internationalen Gerichtshof eine sehr positive Rolle zukommen.

Резюме

Конституционные принципы территориального устройства государства подпадают под проблематику разграничения полномочий и одновременно обеспечения единства целого. Это нечто само собой разумеющееся для федеративных государств, однако в действительности применимо также и к, с одной стороны, централизованным государственным образованиям, а с другой - к более рыхлым объединениям. Проблематика исследуется в основном на примерах, относящихся к ситуации в Европе и, в частности, в Германии. Эти примеры свидетельствуют о том, что на передний план выходит секторальное и территориальное распределение финансовых ресурсов. И, хотя следует признать, что в соответствующих случаях речь идет о высоких политических материях, необходимо выявить также и (конституционно-) правовую составляющую, тем самым подчеркивая значение, придаваемое конституционному судопроизводству, переводящему конфликтные ситуации в русло приемлемых для всех конфликтующих сторон ненасильственных процедур и мирных решений.