L. ADAMOVICH
Präsident des Verfassungsgerichtshofes der Republik Österreich

 

Praktische Probleme der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit

1. Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik

Berührungspunkte mit dem politischen Bereich gibt es mindestens in zwei Richtungen.

Der fast überall feststellbare besondere Bestellungsmodus für Verfassungsrichter bedingt (zwar nicht notwendigerweise, aber erfahrungsgemäß) ein mehr oder weniger großes Nahverhältnis der Richter zum Bereich der Politik. Dagegen ist nichts einzuwenden, soweit es um die Frage des Vertrauens in eine bestimmte Person geht. Es besteht aber ein großer Unterschied zwischen persönlichen Beziehungen schlechthin und dem Ausnützen dieser Beziehungen für Zwecke der Intervention oder gar des Druckes. Politisch Mächtige haben eine gewisse Tendenz, Abhängigkeiten herzustellen und auf dieser Grundlage an die Emotionen der Betroffenen zu appellieren. Dieser Tendenz muß eine klare Haltung des Verfassungsrichters im Sinne eines "bis hierher und nicht weiter" entgegenstehen. Vor die Alternative gestellt, ob sich der Verfassungsrichter seinem Gewissen entsprechend verhalten oder ob er sich gegenüber den Mächtigen gefällig zeigen soll, gibt es nur eine richtige Lösung. Dabei ist noch festzuhalten, daß der Unmut der Mächtigen sich keineswegs in offenen Drohungen ausdrücken muß; es genügt unter Umständen eine deutlich zur Schau getragene Mißbilligung im gesellschaftlichen Bereich. Das muß ein Verfassungsrichter aushalten können.

Die Kompetenzen der Verfassungsgerichte bedingen fast notwendigerweise einen Eingriff in den politischen Bereich. Das gilt insbesondere für den Bereich der Gesetzesprüfung. So betrachtet macht es wenig Sinn, von "political questions" zu sprechen, weil jede Gesetzesprüfung (aber auch noch andere Akte eines Verfassungsgerichts) schon vom Verfahrenstyp her in die Politik hineinreicht. Gemeint ist freilich mit dem Begriff "political question" etwas anderes. Es geht im wesentlichen darum, ob das Verfassungsgericht auch dort eingreifen soll, wo es mehrere denkbare Lösungen gibt. Hans KELSEN hat diese Frage ganz eindeutig verneint. Sein Standpunkt läßt sich im wesentlichen dahin zusammenfassen, daß vor allem im Bereich allgemein gefaßter Wertungen nur der Gesetzgeber zur Entscheidung berufen ist. Wörtlich sagt er in seinem berühmten Vortrag über Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit vor der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer (Prag 1928):

"...., so bedeutet die Delegation von Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Billigkeit, Sittlichkeit usw. mangels einer näheren Bestimmung dieser Werte auch nichts anderes, als daß der Gesetzgeber wie der Gesetzvollzieher ermächtigt werden, den ihnen durch Verfassung und Gesetz gelassenen Spielraum nach freiem Ermessen zu erfüllen."

Dies bedeutet in dem Zusammenhang, in dem es gesagt wurde, eine Absage an eine weitreichende verfassungsgerichtliche Judikatur auf dem Gebiet der Grundrechte.

Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat sich in seiner Grundrechtsjudikatur lange Zeit auf dieser Ebene bewegt. Die heutige Judikatur hat sich weitgehend davon entfernt. Dies konnte nicht ohne Kritik sowohl aus dem Bereich der Politik als auch aus dem Bereich der Rechtswissenschaft abgehen.

Eines allerdings muß festgehalten werden: Es kann politisch durchaus brisante Fragen geben, für die es bei vernünftiger und fundierter Betrachtung nur eine richtige Lösung gibt, die voraussetzungsgemäß irgendeine der in der Politik maßgebenden Kräfte verärgert. In einem solchen Fall darf das Verfassungsgericht keineswegs auf die Wahrnehmung seiner Funktion verzichten.

Nicht zu bestreiten ist es, daß der einfache Gesetzgeber einen Spielraum hat, innerhalb dessen er auch einander ausschließende Regelungen treffen darf; die Frage ist, wie die Grenzen dieses Spielraumes zu ziehen sind. Besonders im Bereich des Gleichheitsgrundsatzes spielt diese Frage eine große Rolle.

2. Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofes zur Enteignung als Beispiel für den Wandel des Grundrechtsverständnisses

Typisch für die zunächst sehr zurückhaltende Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofes in Grundrechtsfragen ist das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 13. Dezember 1928, Slg. Nr. 1123. Es ging darin um das "allgemeine Wohl" als Voraussetzung der Enteignung. Die anfechtende Partei in diesem Verfahren hatte behauptet, daß ein Gesetz nicht dem allgemeinen Wohl diene und daher die Voraussetzung für eine Enteignung nicht gegeben sei. Dazu sagte der Verfassungsgerichtshof:

"Die Anfechtung bekämpft nun entschieden das Vorhandensein dieser Voraussetzung; sie behauptet, daß die im Mietengesetze enthaltenen Einschränkungen nicht dem allgemeinen Wohle, sondern nur dem Wohle der Mieter und nicht einmal aller Mieter dienen. Demgegenüber muß auf das nachdrücklichste betont werden, daß sich der Verfassungsgerichtshof in eine Erörterung dieser Frage nicht einlassen kann. Das allgemeine Wohl oder das allgemeine Beste ist ein juristisch gar nicht faßbarer Begriff, es ist ausschließlich Sache des Gesetzgebers, das Vorhandensein dieser Voraussetzung festzustellen, welche sowohl in dem zitierten § 364 ABGB als in dem folgenden die Enteignung regelnden § 365 enthalten ist. Es besteht geradezu die Hauptaufgabe der gesetzgebenden Körperschaften darin, sich über den Wert der vielfach entgegenstehenden Interessen eine Meinung zu bilden, das nach ihrer Ansicht höhere Interesse zu begünstigen oder zwischen widerstreitenden Interessen ein Kompromiß zu schließen. Der Verfassungsgerichtshof muß es aber entschieden ablehnen, in einer solchen Frage eine Meinung zu äußern."

Schon 1949 (Erkenntnis vom 1. Oktober 1949, Slg. 1853) rückte der Verfassungsgerichtshof von diesem Standpunkt ab und erklärte sich für zuständig:

"Die Prüfung und Beurteilung der Frage aber, ob eine Enteignung dem öffentlichen Wohle dient und daher verfassungsmäßig zulässig ist oder nicht, obliegt im Rahmen ihrer verfassungsgesetzlich festgelegten Zuständigkeiten den Gesetzgebern des Bundes oder der Länder unter der nachprüfenden Kontrolle des Verfassungsgerichtshofes."

Ein weiterer Schritt wurde mit dem Erkenntnis vom 3. Dezember 1980, Slg. 8981 gesetzt. Darin sprach der Verfassungsgerichtshof aus, in der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie sei auch die Rückgängigmachung der Enteignung für den Fall grundgelegt, daß die enteignete Sache dem vom Gesetz als Enteignungsgrund genannten öffentlichen Zweck nicht zugeführt wird.

3. Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtswissenschaft

Hans KELSEN hat sehr deutlich zwischen Rechtsanwendung durch das zuständige Organ und rechtswissenschaftlicher Betrachtung unterschieden. Das hat aber Kritiker der Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofes keineswegs daran gehindert, die Art und Weise der Rechtsanwendung durch den Verfassungsgerichtshof anhand von rechtswissenschaftlichen Überlegungen zu kritisieren. Dies ist auch durchaus legitim, denn bei aller notwendigen Trennung von Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft müssen sie sich doch gegenseitig befruchten. Stehen sie beziehungslos nebeneinander, so führt dies auf der einen Seite zu Kritiklosigkeit, auf der anderen Seite zu einem wirklichkeitsfernen Schweben in abstrakten Sphären.

Nur gibt es nicht eine Rechtswissenschaft, sondern es gibt durchaus unterschiedliche rechtswissenschaftliche Positionen. Die Vertreter dieser Positionen belegen einander mit Vorwürfen, wobei im Zentrum der Begriff der Wissenschaftlichkeit überhaupt steht. Man kann Rechtswissenschaft nicht mit Methoden der Mathematik betreiben, umgekehrt aber kann man nicht aus Rechtswissenschaft reine Wertphilosophie machen. Beide (entgegengesetzten) Vorwürfe gibt es. Zwischen der Reinen Rechtslehre Hans KELSEN's und dem Stil der Rechtswissenschaft, wie er in der BRD vorherrscht, liegen Welten.

Das Verfassungsgericht wird daher immer in Gefahr sein, von der einen oder anderen rechtswissenschaftlichen Richtung kritisiert zu werden. Das muß in Kauf genommen werden. Fraglich ist lediglich, wie intensiv die Begründung der Entscheidungen sich mit möglichen rechtswissenschaftlichen Positionen auseinanderzusetzen hat. Manche Entscheidungen im europäischen Bereich lesen sich wie rechtswissenschaftliche Abhandlungen, andere wieder bestehen aus bloßen Behauptungen. Beides ist unangebracht. Natürlich sind Beratungen eines Gerichtshofes kein Seminar einer Universität. In einem solchen Seminar wird auch nicht abgestimmt. Der Unterschied sollte aber nicht so groß sein, daß man auf nachvollziehbare Begründungen überhaupt verzichtet und lediglich Behauptungen aufstellt.

4. Probleme der Verfassungsinterpretation

Die Aussage, daß die Frage nach der richtigen Interpretationsmethode kontroversiell ist, gehört zum Bereich des Banalen. Im Rahmen der Verfassungsinterpretation bestehen allerdings deshalb größere Probleme als bei der Interpretation einfacher Gesetze, weil Verfassungen sehr häufig mit allgemeineren Formulierungen operieren als einfache Gesetze. Dies gilt besonders für den Bereich der Grundrechte. Daher auch die geradezu ängstliche Ablehnung klangvoller wertgeladener Begriffe in den Schriften Hans KELSENs.

Bei jeder Interpretation, aber besonders bei der Verfassungsinterpretation, muß gewissermaßen mitgedacht werden, was nicht schwarz auf weiß geschrieben, sondern offenbar vorausgesetzt ist. Was man in diesem Sinn noch als vorausgesetzt ansehen darf und was nicht, stellt ein besonders wichtiges Problem dar, an dem sich die Geister scheiden. Die Fronten verlaufen nicht anders als in der unter 3. dargestellten Problematik.

Ein besonderes Problem im Rahmen der Verfassungsinterpretation ist die sogenannte verfassungskonforme Interpretation von Rechtsvorschriften, die unterhalb der Verfassungsstufe stehen. Sie ist zweifellos legitim, solange ihr der Wortlaut der betreffenden Vorschrift nicht erkennbar entgegensteht. Das Umdeuten von eindeutig formulierten Texten in einer verfassungskonformen Interpretation ist schon eine problematische Vorgangsweise. Dies zeigt sich vor allem dann, wenn die zur Handhabung der betreffenden Rechtsvorschriften kompetenten Organe nicht an die Interpretation des Verfassungsgerichtshofes gebunden sind. Der österreichische Verfassungsgerichtshof ist derzeit mit einer solchen Problematik konfrontiert. Er hat in einer konkreten Rechtssache sich dahin geäußert, wie eine bestimmte Rechtsvorschrift von den ordentlichen Gerichten in verfassungskonformer Auslegung verstanden werden sollte. Die ordentlichen Gerichte sind nun aber zum Teil nicht bereit, der Rechtsauffassung des Verfassungsgerichtshofes zu folgen; sie sind auch nicht an diese gebunden. Letzten Endes wird es Sache des Obersten Gerichtshofes sein, sich für den einen oder den anderen Standpunkt zu entscheiden.

5. Probleme aus dem Gemeinschaftsrecht

Es gibt wohl keinen Mitgliedsstaat der Europäischen Union (EU), bei dem nicht durch diese Mitgliedschaft verfassungsrechtliche Fragen aufgeworfen worden wären. In manchen Staaten (BRD, Frankreich) sind diese Probleme durch einen Akt des Verfassungsgesetzgebers gelöst worden. In Österreich wurde der Beitritt als Gesamtänderung der Bundesverfassung gewertet und der Volksabstimmung unterzogen. Die Rechtsordnung der EU läßt sich nicht in den Stufenbau der österreichischen Rechtsordnung einordnen. Es hat sich daher die Auffassung herausgebildet, daß Gemeinschaftsrecht und nationales Recht nebeneinander stehen, allerdings mit dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Fragen der Interpretation des Gemeinschaftsrechts sind im allgemeinen keine verfassungsrechtlichen Fragen. Dies gilt insbesondere für die Entscheidung der Frage, ob der Anwendungsvorrang zum Zuge kommt oder nicht. Ausnahmsweise kann sich doch eine verfassungsrechtliche Problematik ergeben, aber sie ist eher als atypisch anzusehen.

6. Europäische Menschenrechtskonvention

In Österreich steht die Europäische Menschenrechtskonvention samt ihren Zusatzprotokollen im Rang eines Bundesverfassungsgesetzes; sie ist in der Judikatur genauso unmittelbar anzuwenden wie jedes national normierte Grundrecht. Wenngleich die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg nur im Einzelfall bindend sind, bemüht sich der Verfassungsgerichtshof, dieser Judikatur zu folgen. Das bedeutet die Anerkennung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit bei allen Eingriffen in Grundrechte. Schwieriger verhält es sich schon mit der vom Straßburger Gerichtshof vertretenen Auffassung, die Grundrechte bedeuteten auch Schutzpflichten des Staates für die den Grundrechten immanenten Werte. Der Verfassungsgerichtshof hatte bisher nur auf dem Gebiet des Versammlungsrechts Gelegenheit, sich dieser Auffassung anzuschließen.

Резюме

1. Конституционная юстиция и политика

Точки соприкосновения между конституционной юстицией и политикой существуют как минимум в двух сферах: в сфере назначения конституционных судей и в сфере полномочий конституционных судов. Распространенный почти повсюду порядок назначения конституционных судей обусловливает более или менее тесное соприкосновение судей с политической сферой. Против этого нельзя возразить в той мере, в какой речь идет о доверии по отношению к конкретной личности. Однако есть большая разница между личными взаимоотношениями и их использованием с целью вмешательства в деятельность конституционного судьи или давления на него. Подобным устремлениям необходимо противопоставить четкую позицию конституционного судьи, заключающуюся в формуле "до этого пункта и не больше".

Осуществление полномочний Конституционного Суда практически в обязательном порядке подразумевает вмеша-тельство в область политики. Это относится, в особенности, к установлению констиуционности законов. С этой точки зрения бессмысленно говорить о "политических вопросах" ("political questions"), поскольку любое определение конститу-ционности законов (так же как и иные акты Конституционного Суда) уже по самой процедуре разбирательства означает проник-новение в политику. Поэтому под понятием "политических вопросов" следует подразумевать что-то другое, а именно: вопрос о том, должен ли Конституционный Суд вмешиваться, если наличествует возможность выбора одного из многих решений.

2. Практика Констиуционного Суда Австрии по вопросу об отчуждении имущества как свидетельство переворота в пони-мании восприятия основных прав

Типичная для австрийского Конституционного Суда сдер-жанная позиция в отношении вопросов, касающихся основных прав, в частности, определения понятия "общественного блага", (см. постановление Конституционного Суда от 13 декабря 1928-го года N 1123), уже в 1949-ом году подверглась пересмотру (постановление от 1 октября 1949-го года N 1953). А в поста-нов-лении Суда от 3 декабря 1980-го года N 8981 устанавливалось, что конституционно-правовые гарантии собственности подразу-мевают также и обратимость отчуждения в том случае, если отчужденное имущество нельзя подвести под указанный в законе в качестве основания для отчуждения публичный интерес.

3. Конституционная юстиция и правоведение

Критика Конституционного Суда с точки зрения правовой науки вполне легитимна, поскольку при всем необходимом разграничении правоприменение и правоведение должны взаимообогащаться. Если они статичны по отношению друг к другу, то это ведет, с одной стороны, к отсутствию какой-либо критики, а с другой стороны, к далекому от реалий полету в абстрактных сферах.

4. Проблемы толкования Коснтитуции

При любом толковании, но особенно при толковании Конституции, в определенной мере следует подразумевать то, что не написано черным по белому, однако со всей очевидностью предустановлено. Что в этом смысле считать предустановленным, а что - нет, является особенно важной проблемой.

5. Проблемы европейского права

Мы исходим из того, что европейское право и национальное право находятся рядом, разумеется, европейское право имеет преимущество перед национальным. Как правило, вопросы тол-кования европейского права не являются конституционно-правовыми вопросами. Особенно это касается вопроса преиму-щественного применения. В исключительных случаях консти-туционно-правовая проблематика может наличествовать, однако ее следует рассматривать скорее как нетипичную для Конституционного Суда.

6. Европейская Конвенция о защите прав человека и основных свобод

В Австрии Европейская Конвенция о защите прав человека и основных свобод и дополнительные протоколы к ней имеют ранг федерального конституционного закона. Суды обязаны применять ее так же непосредственно, как и любое закрепленное в национальном законе основное право. Если в отдельных случаях постановления Европейского Суда по правам человека имеют обязательный характер, то Конституционный Суд прилагает усилия, чтобы следовать им. Это означает, в частности, признание принципа соразмерности при вмешательстве в основные права.